„Island“ von Iván Pérez, Tanz: Kuan-Ying Su, Andrea Muelas Blanco, Marc Galvez, Inés Belda Nácher, Julián Lazzaro, Thamiris Carvalho, Yi-Wei Lo, Jochem Eerdekens, Mathias Theisen, Lucía Nieto Vera und Chor

Im Gefängnis des eigenen Kopfes

„Island“ – der neue Tanzabend mit Chor von Iván Pérez im Heidelberger Theater

Strenge Komposition: zeitgenössische Theaterformen mit dem Rückgriff auf archaische Wurzeln

Heidelberg, 13/12/2022

So viele Mitwirkende in einem Tanzstück gab es schon lange nicht mehr auf der Bühne des Heidelberger Theaters. Die Company von Iván Pérez ist eher übersichtlich – elf Tänzer*innen sind bei dieser Produktion dabei. Fast doppelt so viele Sänger*innen sind optisch in der Übermacht, wobei die Grenzen der beiden Theater-Genres so fließend wie nur möglich gehalten werden. Alle Mitwirkenden tragen schwarze Hosen und schwarze Oberteile, und alle sind Teil eines fremdartigen, oft unverständlich bleibenden Rituals – das trotzdem eine Stunde lang in den Bann zieht.

Seinen Ursprung hat dieser neue Tanzabend in einer ungewöhnlichen Theater-Initiative im polnischen Wroclaw, dem „Song of the Goat Theatre“. Dessen Gründer und Leiter, Grzegorz Bral, hat sich auf die Fahnen geschrieben, zeitgenössische Theaterformen mit dem Rückgriff auf archaische Wurzeln darstellender Künste neu zu beleben. Dabei spielt die Musik eine besondere Rolle: Polyphone Gesänge, oft mit traditionellem kulturellem Hintergrund, gehören zum Markenzeichen des ungewöhnlichen Theaterprojekts, das sich zu einem führenden Avantgarde-Theater in Polen entwickelt hat.

Dort kreierte der heutige Leiter der Heidelberger Tanzsparte, Iván Pérez, zusammen mit Regisseur Grzegorz Bral und Dramaturgin Alicja Bral 2016 das Stück „Island“. Shakespeares „Der Sturm“ mit der Figur des unglücklichen Prospero, der in der Verbannung auf einer einsamen Insel dem Wahn verfällt, diente dabei als Stichwortgeber. Aber dieser Theaterabend will keine Geschichte erzählen, sondern die Mittel des Theaters so überzeugend bündeln, dass die Zuschauer zumindest im Kopf auf das ferne „Island“ mitgenommen werden. Eine Neufassung dieses Theaterprojekts präsentierte Iván Pérez als aktuellen Tanzabend auf der großen Heidelberger Bühne.

Die Musik – genauer gesagt mehrstimmige Chorsätze – prägen die düstere, rituelle Stimmung des in fünfzehn Szenen gegliederten Abends. Der polnische Komponist Maciej Rychly und der korsische Musiker Jean Claude Acquaviva haben dazu Werke beigesteuert, die antike Mythen, christliche Liturgie oder traditionelle indigene Musik beschwören; traditionelle griechische und georgische Gesänge sind auch dabei. So streng wie die Kompositionen ist auch die Bühne gegliedert: In einem grauen Geviert gibt es als Bühnenbild nur Stühle und dunkle Spiegel.

Tänzerinnen und Tänzer, Sängerinnen und Sänger, selbst Dirigent Michael Pichler sind auf der Bühne in Bewegung, sogar beim Singen. Sie gehen, stehen, knien, formen Linien und Figuren, wehren mit den Händen ab: eine unüberwindliche Macht. Der Tanz hält tapfer dagegen, mit wechselnden Prosperos, die sich ihren individuellen Wahnvorstellungen hingeben dürfen. Ansonsten setzt die Choreografie stark auf Rituale in der Gruppe, auf feierliches Ringelreihen, zum Himmel weisende Armbewegungen, komponiertes Hinfallen und Aufstehen, die Beschwörung magischer Körperrituale.

Im Spiel mit Spiegeln und Licht entsteht am Ende eine Schattenwelt, die den klaustrophobischen Charakter der Szene eindrucksvoll verstärkt. Nein, für diesen oder diese Gefangenen auf der Insel gibt es keine glückliche Heimkehr, ist keine Erlösung in Sicht. Das Publikum belohnte die düstere Botschaft mit starkem Applaus – zur gesellschaftlichen Stimmungslage passt das außergewöhnliche Remake allemal.

 

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