„Soul Chain“ von tanzmainz / Sharon Eyal

Schüsse am Ufer des Schwanensees

Auftakt der 32. Euro Scene Leipzig 2022

Von großen Vergleichen und einer Theaterperle: Das Leipziger Festival bietet Abwechslung

Leipzig, 11/11/2022

Die Euro-Scene 2022 in Leipzig ist gestartet und bot gleich zu Beginn zweimal großformatigen Tanz, der zu Vergleichen geradezu einlud. Den Start machte am Dienstagabend Jan Martens mit GRIP und dem Dance On Ensemble, die zusammen unter dem etwas sperrigen Titel „Any Attempt will end in crushed bodies and shattered bones“ die große Bühne des Schauspielhauses bespielten. Tags drauf kam das von der letzten Euro-Scene-Ausgabe verschobene „Soul Chain“ von tanzmainz unter der Choreografie von Sharon Eyal zum Leipziger Publikum. Beide wurden im ausverkauften Haus mit Jubelstürmen aufgenommen. Das Leipziger Publikum ist tanzhungrig und begeisterungsfähig.

Der Stücktitel „Any attempt...“ ist ein Zitat des chinesischen Staatschef Xi Jinping zu den Protesten in Honkong 2019. Entsprechend politisch gibt sich Martens’ Abend und hat tatsächlich einige Momente mit klarer Akzentuierung, wenn etwa alle Tänzer am Boden liegen, während die Tänzerinnen stehen: Über den Bühnenhintergrund wandern sexistisch übergriffige Zitate, die aus Ali Smiths Buch „Frühling“ stammen. Etwas unter geht der Versuch einer Tänzerin, die Trumpsche Rhetorik der Volksfeinde über die Rampe zu bringen. Das verpufft.

Neben den Texten setzt Martens aber primär auf den Tanz. Zunächst als eine Polymorphie, bei der jeder der Tanzenden seine eigenen Moves sucht – ob boxend, erblindend, oder im angedeuteten Spitzentanz – und wiederholt, bis diese zu einem Ganzen zusammengefügt werden, während dazu repetitiv und laut das aggressive Cembalo aus dem „Concerto pour Clavecin et Cordes, op.40“ von Henryk Mikołaj Górecki hämmert. Diese ganze Repetition und der Anspruch des Politischen erinnert zunächst an Beltrãos „New Creation“, dessen politischer Anspruch es nicht vom Programmheft auf die Bühne schafft. Das kann man Martens nicht vorwerfen, denn er setzt im zweiten Teil auf einen klaren Bruch und lässt sein 17-köpfiges Ensemble im Gleichschritt marschieren, um aber dann auch aus dieser totalitären Vision eine Tanzmaschine zu zaubern, die faszinierend die Gleichheit in ein komplexes Bühnengeschehen überführt, in der jeder Schritt sitzen muss, um zu funktionieren. Die geordnete Masse, wie wir sie aus sozialistischen Stadienchoreografien kennen, wird hier im Kleinstformat zur Anschauung gebracht.

Der dritte, etwas zu lang geratene Teil schließt dann an den ersten an, und die Freiheit des Individuums schließt ganz offenbar die Möglichkeit von ziselierten Gruppenchoreografien nicht aus, bis hin zur Schlussapotheose in roten Kleidern. Ein überzeugender Abend sowohl inhaltlich wie tänzerisch, der aber am Ende ein bisschen zu lang in seinen Wiederholungsmustern verharrt.

 

„Any Attempt will end in crushed bodies and shattered bones“ von Jan Martens / GRIP & Dance On Ensemble

Dagegen stand nun das gefeierte „Soul Chain“ von Sharon Eyal. Die israelische Choreografin setzt ganz und ausschließlich auf die Gruppe, verwandelt sie in eine Tanzmaschine. Die Seelenkette, die sie über die Bühne rollt zu lauter Techno-Musik, die wagnergleich alles niederwalzt und keine Möglichkeit des Luftholens lässt. Selbst die individuellen Ausbrüche, die sich durch den Abend ziehen, sind wohlkalkulierte Exerzitien, dieser kraftraubenden und perfekten Überwältigungsnummer. Pure Ästhetik, ein Inhalt ist nicht auszumachen und wer auch „Sphinx“ von tanzmainz gesehen hat, fragt sich, ob diese inhaltliche Leere bei technischer Perfektion geradezu ein Markenkern der Company werden soll. Dennoch hat der Abend eine Intensität, der man sich freilich nur schwer entziehen kann. Der Zufall der gleichzeitigen Programmierung mit „Any attempt...“ schafft es, genau solche Diskussionen zu führen, weil die Unterschiede so klar heraustreten.

 

„Soul Chain“ von tanzmainz / Sharon Eyal

Zum Bergfest am Donnerstag gab es dann noch eine richtige Deutschland-Premiere, die Forward Dance Company, in den letzten zwei Jahren künstlerischer Partner der Euro-Scene. In der Choreografie von Alessandro Schiattarella zeigten sie „Sulle Sponde Del Lago – Am Ufer des Sees“. Die mixed-abled Company hat sich dabei noch einmal personell erweitert und verändert auf mittlerweile sechs Tänzer*innen. Im Lofft saßen nun die Zuschauer*innen in kleinen Sitzinseln auf der Bühne, während die sechs alle auf einmal auf Deutsch und in Englisch kakophonisch von einem Schloss erzählten. Denn natürlich geht es hier um eine Auseinandersetzung mit „Schwanensee“ und seinen Bildern. Immer wieder sausen die Tänzer*innen zwischen den Stühlen umher. Eine große Ballettstange aus Aluminium wird fachgerecht zerlegt, während Lisa Zocher als erbarmungslose Choreografin im Rollstuhl die beiden Tänzer Mouafak Aldoabl und Renan Alves Manhães mit „Stop!“ und Zählen bis acht über die Bühne scheucht, bis einer schließlich zusammenbricht. Dazu hämmert im Loop der Beginn von Tschaikowskis Schwanensee-Komposition.

Der Abend lebt von den immer wieder zusammenkommenden und auseinanderfliegenden Performer*innen, die sich gegenseitig mit großer Achtsamkeit begegnen, die herausgestellt wird, so dass die eigene Arbeit durchaus als Gegenentwurf zur persiflierten Perfektionierungswut des klassischen Tanzes gelesen werden darf. Gleichzeitig bedienen sie auch immer wieder (besonders musikalisch) klassische Motive des großen Tschaikowski-Balletts, wie den schwarzen Schwan oder auch angedeutete Raumgreifungen à la „Schwanensee“.

Die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Company-Mitglieder werden genutzt, um spannende Bilder zu bauen, wenn etwa ein Dreirad und ein Rollstuhl zu einer großen Lichtmaschine für das große kollektive Schlussbild zusammenmontiert werden. Die noch junge Company hat dabei ihren tänzerischen Stil gefunden, der sich weniger als Tanzform als im Umgang miteinander zeigt.

 

„Sulle Sponde Del Lago – Am Ufer des Sees“ von Alessandro Schiattarella / FORWARD DANCE COMPANY von LOFFT – DAS THEATER

Zu guter Letzt sei noch eine wahre Perle dieser ersten Euro-Scene-Tage erwähnt: Simone Zambelli. Der Tänzer gibt in „Misericordia“ von Emma Dante / Compagnia SudCostaOccidentale, das als deutsche Erstaufführung zu sehen war, einen herzallerliebsten Autisten in einer auch ansonsten wunderschönen Inszenierung. Mit unglaublichem Gefühl für körperliche Details und einer selten gesehenen mimischen Ausdrucksstärke spielt dieser Tänzer sich scheinbar mühelos in die Herzen des Publikums. Ein Tanzwunder.

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