Atmosphärische Dichte und luftleerer Raum

4. Tag der Tanzplattform 2022 in Berlin

Michelle Moura dissoziiert als Königin des Poker Face in den Sophiensaelen und Meg Stuart / Damaged Goods saugen an der Volksbühne das Publikum in eine intensive Zeiterfahrung.

Berlin, 20/03/2022

Wer bin ich, wie teile ich mich mit und was passiert, wenn Sprache und Körper voneinander getrennt werden? So lässt sich befragen, was Michelle Moura an Tag 4 der Tanzplattform in den Sophiensaelen durch die Schaffung von Dissoziationen auf physischer und klanglicher Ebene versucht in ihrer Solo-Performance „Overtongue“ zu vermitteln. Damit also noch ein Stück der Tanzplattform, das sich der Dekonstruktion von Sprache verschreibt, die sich als eine Art roter Faden durch das Programm zieht. (Siehe Innehalten und Unzulänglichkeiten von Sprache – Tag 2 der Tanzplattform)

Speziell an „Overtongue“ ist die Fähigkeit der Choreografin und Tänzerin Michelle Moura, gegensätzliche Bilder mit ein und demselben Körper zu kreieren und damit mehrere Assoziationen auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig vermitteln zu können. Mimik, Gestik und Körpersprache verhalten sich in Mouras Choreografie unabhängig voneinander. Ihre Glieder, Gesichtszüge und Gefühle verselbstständigen sich in unterschiedliche Sphären und vermitteln konträr wirkende Eindrücke. Besonders beindruckend sind die Szenen, in denen Michelle Moura mit Mitteln des Bauchredens geheimnisvolle Klänge, Worte oder sogar ganze Sätze in den Raum schwingen lässt, ohne auch nur die winzigste Regung in ihrem Gesicht zu zeigen. Michelle Moura ist die Königin des Poker Face!

Die von ihr generierte Geräusch- und Bewegungskulisse wirkt mechanisch, fast wie programmiert, unnatürlich, manchmal unheimlich und einen Hauch clownesk immer dann, wenn sich die stark rhythmisch geprägte Choreografie in übertriebenen Grimassen, bedeutungsaufgeladenen Gesten und überdeutlichen Posen entlädt.
Michelle Mouras Bewegungssprache manövriert sich gekonnt durch Widersprüchlichkeiten, denn sie ist: manipuliert – kontrolliert, lebendig – gespenstisch, abgehakt- fließend, selbstbestimmt – ohnmächtig. Auf paradoxe Weise schafft es Michelle Moura die unsichtbare Balance zwischen körperlichem und geistigem Ausdruck zu verbildlichen, indem sie deren Abwesenheit darstellt.

Die Zuschauer*innen sind aufgrund der unkonventionellen Bewegungssprache gezwungen zwischen den Zeilen zu lesen. Dabei stellt sich immer wieder die Frage, was ist real? Was wird vordergründig gezeigt und was im Hintergrund verborgen? Zeitgenössische Themen, wie Fake News oder Social Media und deren Frage nach Authentizität oder Problematiken der Transparenz und Überprüfbarkeit schwingen hier mit.

„Overtongue“ ist originell, intelligent ausgearbeitet, und man hätte Michelle Moura gerne noch länger dabei zugesehen, wie sie Sprache dynamisch verhandelt und auf magische Weise in den Raum transportiert.

Viel langatmiger hingegen zeigt sich „Cascade“ von Meg Stuart in der Volksbühne. Wer sich von einer der wenigen größeren Produktionen der diesjährigen Tanzplattform einen virtuos-tänzerischen Abend im Weltraum-Look versprochen hat, musste hier viel eigenen Treibstoff und innere Ressourcen mitbringen.

Das imposante Bühnenbild von Philippe Quesne, bestehend aus überdimensionalen Luftkissen mit Sternenbilder-Print, von der Decke hängenden Seilen und Netzen, sowie eine steile Rampe, wirkt wie ein ins Weltall geschossener Abenteuerspielplatz. Kaum zu glauben, dass dieser während des zweistündigen Abends so wenig erkundet wird.

Stattdessen bekommt das Publikum lethargisches Entlanggleiten, Umherstreifen und ewiges Verweilen präsentiert. Sieben Tänzer*innen von „Damaged Goods“ bewegen sich orientierungslos durch einen struktur- und zeitlosen Weltraum und verlieren sich in tranceartigem Trommeltanz, werfen sich auf eine Matratze. Beliebige und unkoordinierte Langeweile wird hier zum Konzept gemacht und für das Publikum zu einer intensiven Zeiterfahrung. Die Geduld des Publikums wird hier sicher mit Absicht überstrapaziert, mit der Idee sich vereint in ein schwarzes und abgründiges Loch zu begeben. Die wenigen überdeutlichen Witze, die versuchen, uns aus dem schwarzen Loch heraus zu retten, sind nicht zündend genug. Ein paar entladene Schreie und ein fantastisches Abschlussbild zum Ende – eine kleine Versöhnung.

Kommentare

Noch keine Beiträge