Tanz und Diaspora

„Contemporary PerforMemory. Dancing through Spacetime, Historical Trauma, and Diaspora in the 21st Century“

Das Buch von Layla Zami ist eine wertvolle Erweiterung sowie Verbindung tanzwissenschaftlichen Wissens mit kulturellen Forschungen zu Diaspora, Erinnerung und Trauma.

Bielefeld, 14/09/2021
Inspiration ist eine wichtige Quelle für Arbeit und sicherlich auch für das Leben. Nicht nur künstlerisches Arbeiten lebt von Inspiration, auch wissenschaftliches beginnt oft bei Gefühlsvariationen der Faszination, Berührung oder Überwältigung. So auch das Buch von Layla Zami, das ausgehend von der Tanzperformance „Durch Gärten“ der afrodeutschen Choreografin Oxana Chi eine eindrucksvolle Studie über Erinnerungen, Tanz und Diaspora bereitstellt.

Im Zentrum der englischsprachigen Studie von Layla Zami steht die Untersuchung von persönlichen und kollektiven Bewegungs-Erinnerungen in Solo-Tänzen von sieben Choreograf*innen, die allesamt außerhalb institutioneller Strukturen und Kanons zu verorten sind: Oxana Chi, Chantal Loïal, Zufit Simon, André M. Zachery, Wan-Chao Chang, Christiane Emmanuel und Farah Saleh. Ich sehe dieses Buch als eine wichtige Zeitaufnahme künstlerischer Auseinandersetzungen der Topoi Vertreibung, Migration, Unterdrückung, Empowerment und Widerstand. Innerhalb dieser aktuellen Themen schafft es die Studie die in dem kulturwissenschaftlichen Feld der Erinnerungsforschung bisher kaum beachtete Position Tanz aufzuwerten. Das Buch von Layla Zami macht deutlich, wie wichtig die Beschäftigung mit Tanz und Diaspora ist, um bisher marginalisierte epistemologische Praktiken der kulturellen Erinnerung und Verarbeitung historischer Traumata (z.B. Middle Passage, Maafa, Holocaust, Nakba) hervorzuheben. Sie kann in Anlehnung an Wissen zur zeitlichen Beständigkeit von Bewegungen zeigen, dass Tanz die Destabilisierung hegemonialer Geschichte(n) und Zeitlichkeite(n) bewirken kann.

Dabei beeindruckt bereits die Einleitung der interdisziplinären Studie mit ihren weit verzweigten Wissensbezügen zu Gender Studies, Black Studies, Memory Studies und Tanzwissenschaft sowie eines in der Studie verfolgten dekolonialen feministischen Ansatzes. Für die Tanzwissenschaft ist die Studie ein großer Gewinn, da sie nicht nur auf die Lücken in der Beschäftigung mit Performer*innen of Color hinweist, sondern diese schließt und zur weiteren Beschäftigung mit nicht kanonisierten Tänzer*innen anregt. So ist das Buch mit seinem diasporazentrischen Ansatz selbst als Arbeit an den Wissensbeständen der Tanz- und auch Kulturwissenschaften zu sehen und erweitert die bereits in den Tänzen verhandelte Politisierung von Erinnerung innerhalb der eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

Die Einleitung und die vier nachfolgenden Kapitel haben einen ähnlichen Umfang von jeweils um die fünfzig Seiten und sind durchweg sehr gut zu lesen. Theorie wird immer wieder verständlich erläutert und an Beispiele aus dem Tanz gebunden. Den roten Faden bildet die Ausarbeitung und Beschreibung des von der Autorin entworfenen Konzeptes PerforMemory. Hervorgehoben wird, dass Tanz eine Praxis affizierter Körper in Bewegung ist, die im globalen, transnationalen Raum verortet ist und sich immer wieder zu dieser globalen Verstrickung verhält.

Um dies mit einem Begriff zu verdeutlichen, führt Layla Zami das Wort dancescapes zu Beginn des ersten Kapitels Memory Dancescapes ein. Zentral für dieses Kapitel ist die Beschreibung der sieben verschiedenen Beispiele, das Herausstellen ihrer Gemeinsamkeit – ein choreobiografischer Ansatz –, ihrer thematischen Schnittstellen (Darstellung von Frauen der Geschichte, familiäre Genealogie, Vertreibung) sowie Unterschiede, die in den jeweiligen lokalen Verortungen (z.B. Palästina, Martinique, USA, Deutschland) liegen. In dieses Kapitel fließen zudem Überlegungen zum „lebendigen Archiv“, zum theaterwissenschaftlichen Konzept von Präsenz sowie Marianne Hirschs Begriff Postmemory ein, das mit den von der Autorin verwendeten Begriff PerforMemory verwoben wird. Das Kapitel zeigt überzeugend auf, dass in Solotänzen eine Kraft liegt, die gegenwärtige Machtverhältnisse durch Artikulation bisher nicht berücksichtigter Geschichte(n) destabilisiert. Als Zuschauer*innen können wir diese Geschichte(n) wiederum mit unserer eigenen verweben und mit uns tragen, insofern stellen die Stücke eine Art Memory2Go bereit.

Das zweite Kapitel Diasporic Moves, das von den persönlichen Erinnerungen und Gedanken der Autorin umrandet wird, fokussiert die Verbindung von Tanz und Diaspora, um das für die Studie wichtige Konzept PerforMemory weiter zu ergründen. So machen die Analysen deutlich, dass in PerforMemory choreografische Materialien (Körper, Bewegungen, Geschwindigkeiten) in ausdrucksstarke Formen zu einer Narration über Diaspora angeordnet werden. Überzeugend wird hierbei argumentiert, dass Diaspora nicht als fixer Zustand verstanden werden kann. Eher schafft Diaspora einen Zustand der Transition, eine ständige Bewegung, eine nomadische Subjektivität, an die Gefühle von Melancholie gebunden sein können. Die Verhandlung diasporischer Inhalte wie Gefühle von Heimat und Zugehörigkeit wird aber nicht nur an und mit den Körpern der Tänzer*innen in den Choreografien verhandelt, sondern eben auch im Raum, was diesen als diasporischen Raum hervorbringt. Erneut schafft es die Autorin in diesem Kapitel, die Bedeutung von Tanz bei der kulturellen Betrachtung von Geschichte(n) und Diaspora herauszustellen.

Das dritte Kapitel Dancing the Past in the Present Tense widmet sich der großen und komplexen Frage nach Zeitlichkeit(en). Auch in diesem Kapitel hinterlässt der dekoloniale Ansatz sowie die Distanznahme zu westlichen, linearen Vorstellungen von Zeitlichkeit Eindruck. War in vorherigen Kapiteln noch vom Konzept dancescapes die Rede, wird hier der Begriff timescape als Anagramm zu spacetime eingeführt. So kann die Räumlichkeit von Zeit, von Zeit als sich entfaltenden Raum auf einen Begriff gebracht werden. In diesem Kapitel geht die Autorin explizit auf die Ephemeralität von Tanz ein, und setzt dieser vermeintlichen Flüchtigkeit die Beständigkeit von in der Zeit andauernden Bewegungen entgegen, was sie sowohl mit Bezugnahmen auf indigenes Wissen als auch tanz- und theaterwissenschaftliche Theorien von Rebecca Schneider deutlich macht.

Auch ist in diesem Kapitel wieder sehr überzeugend, wie die Autorin die verschiedenen Beispiele auf ein Thema – hier das der Zeitlichkeit – differenziert untersucht. Um Aspekte von Zeitlichkeit(en) in den Performances als Erfahrungsraum von Zeit(en) hervorbringen zu können, stellt die Autorin die Wichtigkeit von Intensität heraus – die Rahmenbedingung für das Konzept von PerforMemory. Insofern bekommt der phänomenale Aspekt von Zeit eine Aufwertung, was zudem in ihrer Bezugnahme auf das von Michelle Wright in den Black Studies verortete Konzept der „epiphänomenalen Zeit“ deutlich wird. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden drei in den Tänzen häufig verwendete Bewegungsebenen (Turning, Jumping, Crossing) fokussiert. Darin wird gezeigt, dass die diasporazentrischen Tänze Erinnerungswissen als Kraft von Körpern in Bewegung hervorbringen. Dieses Wissen ist gegen lineare Vorstellungen von Zeit und gegen hegemoniale Geschichte(n) gerichtet.

Das vierte Kapitel ist lt. Layla Zami eine Art Buch im Buch. Hier wurden Transkriptionen der Interviews von der Autorin mit den Choreograf*innen bereitgestellt, denen eine kurze Biografie jeweils vorangestellt ist. Dieses Kapitel rahmt nicht nur die Studie, sondern gibt einen anregenden Einblick in die Ansichten der Künstler*innen.

Dieses Buch erbringt mit dem Begriff PerforMemory ein Konzept, das es ermöglicht die verschiedenen Ebenen von Tanz und Körpern, Diaspora und Widerstand, von persönlichen Erinnerungen und gegenhegemonialer Geschichte(n) zu beschreiben. Insofern adressiert das Buch aus meiner Sicht nicht lediglich Tanzwissenschaftler*innen oder Tanzinteressierte, sondern ebenso Personen, die ein Interesse an gegenhegemonialen Erzählungen haben und nach Methoden der Annäherung, des Forschens und der Wissensverarbeitung hierfür suchen.

von Karina Rocktäschel

Layla Zami: Contemporary PerforMemory. Dancing Through Spacetime, Historical Trauma, and Diaspora in the 21st Century, Transcript Verlag 2020, 292 Seiten, 8 SW, 8 Farbabbildungen; ISBN: 978-3-8376-5525-4, 39 €;

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