Kompliziert gut

Gestreamt: „Der Feuervogel“ aus Karlsruhe samt Vorspiel

„Der Feuervogel“ von Jeroen Verbruggen als Backstage-Story mit einem Prolog von Bridget Breiner, der auf eher abstrakte Weise mit bekannten Märchenmotiven spielt.

Karlsruhe, 26/04/2021

Eigentlich hätte der „Feuervogel“ schon im November das Licht der Bühnenwelt erblicken sollen. Es kam anders, wie man weiß, und je länger die Zeit bis zur potentiellen Premiere dauerte, desto schrittreicher wurde der „Prolog“, den Bridget Breiner eigentlich der Strawinsky-Interpretation von Jeroen Verbruggen voransetzen wollte. Inzwischen hat er sich zu einem eigenständigen, knapp halbstündigen Stück ausgewachsen, das gut für sich selbst stehen könnte – auch wenn es zwischen „Verzaubert“ und dem „Feuervogel“ einen fließenden Übergang gibt, wenn sich die „Magie“, wie die Ballettchefin ihre Katalysator-Figur nennt, nach der Pause zu einem „Magier“ wandelt, der den Kastschej des Uraufführungslibrettos ersetzt.

Es ist überhaupt einiges anders bei der Uraufführung des Badischen Staatsballetts. Viel Märchen ist da nicht. Stattdessen schaut der Choreograf aus Belgien hinter die Kulissen eines fiktiven „Feuervogel“-Varietés der 1920er Jahre und offeriert uns eine Backstage-Story, der sich die Handlungsstationen der Strawinsky-Musik eingeprägt haben. Die erklingt zwar auch in Karlsruhe corona-bedingt nicht mehr in einem farbflirrenden Orchesteroriginal, sondern in einem Arrangement von Tom Smith für drei Klaviere, Harfe, Pauke und Percussion, das dem Probencharakter des Ganzen pointiert entspricht. Leider bleibt bei dem Live-Stream noch allzu viel im Dunkel, aber dass es sich dabei um eine Revue handelt, lässt sich in Ensemble-Formationen immerhin erahnen. Akkurat stellen sich die Girls auf die Treppe, als wollten sie Balanchines „Apollon musagète“ parodieren. Die Gäste sind nicht weit, und unter ihnen fällt ein gewisser Iwan auf, weil er sich offensichtlich für ein Chorus-Girl interessiert. Doch erst als ein so genanntes Starlet niederschwebt, noch gänzlich verschleiert und das Gesicht unter einem grauen Fliegenpilzhut verborgen, kommt wirklich Bewegung in die Geschichte. Und wenn einem auch nicht unbedingt klar wird aus welchem Grund, bleibt sie schon deshalb spannend, weil sich mit der Zeit die Geschlechteridentitäten aufzulösen beginnen. Nicht nur den Girls wird ein Spiegel vorgehalten. Auch Iwan geht irgendwann ein Licht auf, und der Weg der Selbstfindung führt ihn am Ende heraus aus den Katakomben seines Unterbewusstseins.

Das klingt kompliziert und ist es auch. Aber Verbruggen lässt sich immer wieder auf die Musik ein und setzt den Tingeltangel so gekonnt auf Spitze, dass nicht nur Lucia Solari und Carolin Steitz auf ihre Kosten kommen. Auch Joshua Swan gibt sich als Iwan keine Blöße, selbst wenn er am Schluss ganz nackt erscheint, und Paul Calderone befeuert das Ganze sowieso auf seine Art, so wie ihm das zuvor schon in „Verzaubert“ gelungen ist. Bridget Breiner spielt in ihrem Prolog auf eher abstrakte Weise mit bekannten Märchenmotiven, und dennoch schafft es Calderone ganz nebenbei, seinen vier Kolleg*innen den Ball oder den goldenen Apfel zuzuwerfen. Choreografiert zu leichtfüßiger Klaviermusik von Maurice Ravel, zwischen die immer wieder Jazz-Reminiszenzen von Jelly Roll Martin eingeschoben werden, lässt das Ballett zwar an Schneewittchen, den Froschkönig und einen Jack denken. Aber es bleibt immer offen für eigene Gedankenspiele, und Francesca Berruto, Nami Izo, Pablo Octávio und Valentin Juteau beweisen sich als Verwandlungskünstler*innen, die nicht nur mit ihren Händen und Armen wahre Wunder vollbringen, sondern auch berühren können. Und das ohne sich jemals zu berühren.

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