„Kameliendame“ von John Neumeier

„Kameliendame“ von John Neumeier

Vom Wiedersehen nach langer Zeit

„Kameliendame“ 40 Jahre nach der Uraufführung wieder beim Stuttgarter Ballett

1978 kreierte ein Tänzer und aufstrebender junger Choreograf in Stuttgart ein Ballett, das den Grundstein für eine unerhörte Erfolgsgeschichte legte. John Neumeier nutze für „Kameliendame“ den gleichen Stoff wie „La Traviata“, aber die Oper lag ihm fern.

Ludwigshafen, 21/01/2019

Wie gut altert eine Choreografie? Wenn man dasselbe Stück nach zehn, zwanzig oder mehr Jahren wiedersieht – ist es dann noch dasselbe? Andersherum gefragt: Ist man als Zuschauer noch der- oder dieselbe? Wie hat sich Zeitgeist verändert, wie die eigene Wahrnehmung? So eine Wiederbegegnung nach langer Zeit hat das Potenzial für deutliche Höhen und Tiefen, und die Antwort ist natürlich immer höchst subjektiv.

1978 kreierte ein Tänzer und aufstrebender junger Choreograf in Stuttgart ein Ballett, das den Grundstein für eine unerhörte Erfolgsgeschichte legte. John Neumeier nutze für die „Kameliendame“ den gleichen Stoff wie „La Traviata“, aber die Oper lag ihm fern. Er unterlegte sein eigenes, raffiniert mit Rückblendungen und „Bühne auf der Bühne“ spielendes Libretto mit Musik von Chopin, schuf seine ganz eigene Version der bittersüßen Liebesgeschichte und es war keiner Geringeren als Marcia Haydée auf die beweglichen Füße und das schauspielerische Talent geschneidert - John Crankos ehemaliger Primaballerina, die bald nach dessen allzu frühem Tod die Direktion des Stuttgarter Balletts übernommen hatte. Es galt, die bange Frage zu beantworten, wie zukunftsfähig das sprichwörtliche „Stuttgarter Ballettwunder“ ohne Cranko sein konnte. Der Kanadier hatte mit seiner spektakulären Erneuerung des Genres Handlungsballett eine hohe, vom Publikum stürmisch gefeierte Messlatte gesetzt.

Neumeier war der erste, der dieser Messlatte standhalten konnte. Die „Kameliendame“ wurde zu seinem Signaturstück, international gefeiert und mit Marcia Haydée in der Titelrolle verfilmt. So war es eine kleine Sensation für das tanzbegeisterte Publikum, dass bei einem Gastspiel in Ludwigshafen im Januar 1989 die brasilianische Ausnahmekünstlerin noch einmal die Spitzenschuhe schnürte – kurz vor ihrem 52. Geburtstag. Am Eröffnungsabend war der Pfalzbau bis auf den letzten Platz besetzt, die Spannung hoch. Der Bühnenauftritt der Primaballerina dauerte allerdings nur wenige Minuten, dann geschah das Unglück: Auf der Spitze stehend, knickte sie mit einem Fuß um und fiel. Der Vorhang schloss sich, im Publikum setzte ratloses Raunen ein.

Fünfzehn Minuten später öffnete sich der Vorhang wieder, und das Stück fing noch einmal von vorne an. Marcia Haydée tanzte wie vielleicht noch nie zuvor und nie wieder: mit einem neuen Bewusstsein von Endlichkeit, das sie und die Zuschauer Eins zu Eins teilten. So verlief meine erste Begegnung mit Neumeiers „Kameliendame“, eine in mehr als nur einer Hinsicht unvergessliche Aufführung.

40 Jahre nach der Uraufführung steht die „Kameliendame“ in Stuttgart wieder auf dem Spielplan, Gelegenheit für ein Wiedersehen nach langer Zeit. Neumeier ist längst Wahl-Hamburger und der Ballettdirektor mit der längsten Verweildauer im Amt und das Stuttgarter Ballett hat sich als Choreografen-Schmiede etabliert, in der auch die Tradition zeitgenössischer Handlungsballette hochgehalten wird. Die „Kameliendame“ ist ein weltweit geschätzter, gepflegter Klassiker geworden. Neumeiers Choreografie atmet noch immer die melodramatische Intensität, die das Publikum bei der Uraufführung begeisterte. Und besser als in Stuttgart wird man die „Kameliendame“ ganz sicherlich nirgendwo zu sehen, vielleicht auch nicht zu hören bekommen. Die Verbindung von Leichtigkeit und Tiefe hat Dirigent James Tuggle vollendet im Griff.

In der Titelrolle der Marguerite Gautier debütierte Alicia Amatriain, eine untadelige, facettenreiche und ausdrucksstarke Ballerina, ihr gegenüber versprühte Friedemann Vogel als Armand Duval eine beeindruckende Mischung aus unbekümmertem Charme und entschlossenem Ernst. Ihnen zur Seite agiert eine beeindruckende Riege Stuttgarter Solisten, die die bittersüße Geschichte mit individuellem Leben füllen. Am Ende gibt es viel, viel Beifall – und keinerlei bange Fragen mehr. Das ist schön und richtig so und lässt doch ein winziges Bisschen Wehmut aufkommen. Am Premierenabend ist Marcia Haydée unter den Gästen und lässt sich noch einmal feiern: Die „Kameliendame“ bleibt ihr Stück.
 

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