Potenzial für eine Neubewertung

Neuerscheinung: „Volkseigene Körper - Ostdeutscher Tanz seit 1945“

Der Titel wirkt provozierend. Doch was Jens Richard Giersdorf in diesem kenntnisreichen, das Archiv des ostdeutschen Tanzes vor dem Verschwinden bewahrenden Buch zur Diskussion stellt, beleuchtet jenen auf solitäre Weise.

Der Titel wirkt provozierend. Doch was der Autor in diesem kenntnisreichen Band - stets von einem starken Bemühen das Archiv des ostdeutschen Tanzes vor dem Verschwinden, vor Unterdrückung oder Fehl-Interpretation zu bewahren sucht - zur Diskussion stellt, beleuchtet auf solitäre Weise „Ostdeutschen Tanz seit 1945“. Seine Erkenntnisse beruhen auf Kenntnis der gesellschaftspolitischen und ästhetischen Kontexte: „Mein Interesse am politischen Vermögen von Tanz liegt in dem Verlust dieser Utopie und der Umstrukturierung meiner Kultur nach dem Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren. Das Phänomen des Dazwischen-Seins interessiert mich wegen der Ko-Präsenz unterschiedlicher Positionen.“ Das Buch, 2013 unter dem Titel „The Body of the People“ für eine englischsprachige Leserschaft geschrieben, erscheint jetzt in Deutsch „da ich aufzeigen wollte, dass in der deutschsprachigen Tanzwissenschaft eine Geschichtsschreibung des ostdeutschen Tanzes kaum vorhanden ist.“

Jens Richard Giersdorf studierte Tanzwissenschaft an der Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig, promovierte in den USA, lehrte in Großbritannien und forscht derzeit am Marymount Manhattan College New York zur Politik von Tanz und anderen Bewegungsmodellen. Seine Untersuchungen zu Verkörperung, Bewegung, Tanz und Choreografie skizzieren in loser zeitlicher Reihenfolge Beispiele für Choreografien der Indoktrinierung und des Widerstands in offiziellen und oppositionellen Systemen.

Giersdorf untersucht Aufbau und Niedergang einer nationalen Identität, „und noch dazu einer, die außerhalb globaler kapitalistischer Gesellschaften konstruiert wurde“, indem er Folklore als deutsches Phänomen verortet und die Folklorekultur als identitätsstiftend für den neuen sozialistischen Staat und seine Bürger in Kulturpolitik und Alltag kritisch untersucht. „Folklore wurde vom Missbrauch während der Nazizeit gereinigt und als spezifisch ostdeutsch und sozialistisch definiert. Sie wurde benutzt, um gesellschaftliche Visionen umzusetzen.“ Der Autor analysiert „Canto General - Poem für Tänzer" (Text: Pablo Neruda, Musik: Mikis Theodorakis, Choreografie: Harald Wandtke), die letzte abendfüllende Choreografie des Erich-Weinert-Ensembles der Nationalen Volksarmee der DDR in Koproduktion mit dem Tanztheater der Komischen Oper Berlin 1989, als einen „enormen Bruch mit der bislang praktizierten Verwendung von Folklore in choreografischen Arbeiten“.

Giersdorf widerspricht mit seinen Untersuchungen einer nach wie vor dominanten Ost-West-Dichotomie in der Kunstbetrachtung und Bewertung. Dezidiert auf die dominierend-denunzierende Tanzgeschichtsschreibung (etwa Jochen Schmidt „Tanztheater in Deutschland“) verweisend, schreibt er gegen das ideologisch geprägte „Forschungsvakuum“ und „das Ausmaß der Auslöschung des ostdeutschen Tanzes“ mit seiner „Geschichte des Tanzes in der DDR“ an.

Giersdorfs singuläre Interpretation des Begriffes ‚Tanztheater‘ durch Tom Schilling und das Tanztheater der Komischen Oper Berlin „erwächst aus der diskursiven Spannung zwischen sozialistischem Realismus und Moderne“. Der Autor sieht es als Notwendigkeit an zu analysieren, „welche modernen Prinzipien Schilling in seiner Choreografie erforschte, um zu begreifen, gegen welche Definition der Moderne der sozialistische Realismus anging“.

Wie Tom Schillings Tanztheater die westliche Vormachtstellung in Bezug auf Moderne dadurch herausforderte, dass er sozialistischen Realismus in Beziehung zu moderner künstlerischer Produktion setzte, verdeutlichen Giersdorfs Betrachtungen von Tom Schillings Choreografie („La Mer“ 1968, „Rhythmus“ 1971 und „Schwarze Vögel“ 1975) und seiner Entwicklung der sozialistisch-realistischen Tanzrhetorik.

In allen Kapiteln bleibt der Autor seiner Recherche-Absicht treu, die er im Vorwort klar umreißt: „Mein Hauptanliegen beim Verfassen dieses Buches ist also ein politisches: Durch meine Arbeit an der Historisierung möchte ich die Leser mit einer Tanzkultur vertraut machen, die bislang nicht zur etablierten Tanzgeschichte gehört.“

Im Kapitel „Widerständige Bewegungen im Osten“ untersucht der Autor den Beginn der oppositionellen Bewegung im Tanz an drei einzigartigen Beispielen für ostdeutsche Bewegungskultur, die außerhalb des offiziellen Diskurses im wiedervereinigten Deutschland stehen - Arila Siegert, Fine Kwiatkowski und dem Transvestiten Charlotte von Mahlsdorf. Wie diese mit weiblichem Gendering und Berufstätigkeit sowie mit traditionellen Geschlechterbildern als Mittel institutioneller, choreografischer und performativer Taktiken (Improvisation als Werkzeug körperlichen Widerstands gegen sozialistisch-realistische Inszenierungen, Grenzüberschreitungen) umgingen, gewinnt in der packenden Untersuchung Gestalt. Dabei findet Arila Siegerts grundlegende Rückbesinnung auf Ausdruckstanz und dessen institutionellen Strukturen anhand ihrer Rekonstruktion von Dore Hoyers „Afectos Humanes“ 1988 anschaulich Würdigung. Der Autor untermauert seine Analysen durch genaue Kenntnis der gesellschaftspolitischen Entwicklungen sowie von sozialen und ästhetischen Milieus in der DDR, beispielsweise der sich ändernden Sicht auf Gesetzgebung, Medien, Popkultur, auf den Bürger als Individuum oder Homosexualität.

Giersdorf plädiert mit seinen Betrachtungen gegen die fortschreitende Auslöschung des ostdeutschen Tanzes und zugleich für das Studium von Modellen von Tanz, die „Alternativen zur westlichen Hegemonie der Form zu bieten haben“. Wie der gesellschaftliche Kontext die Konnotation von Bewegung verändert, zeigt der Verfasser überaus spannend und anregend, indem er seine Lesarten von „Pax Germania“ (Jo Fabian, 1997) und „Allee der Kosmonauten“ (Sasha Waltz, 1996) zur Diskussion stellt. Dass er im Schlusskapitel die choreografische Arbeit des Chilenen Patricio Bunster von 1930 bis heute als Beginn einer transnationalen Geschichte ostdeutschen Tanzes versteht, die es in einer globalisierten Demokratie zu behaupten gilt, ist wie vieles in diesem Zusammen-Denken ambivalenter künstlerischer Prozesse und ihrer Protagonisten kühn und nicht mainstream-konform. Giersdorfs Buch gibt dem vorurteilsfreien Leser von der ersten bis zur letzten Seite wichtige Anregungen zum Neu- und Weiterdenken deutscher Tanzgeschichte.


Jens Richard Giersdorf: Volkseigene Körper. Ostdeutscher Tanz seit 1945 (übersetzt aus dem Englischen von Frank Weigand), Oktober 2014, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb.,
Print: 34,99 €, ISBN: 978-3-8376-2892-0
E-Book (PDF): 34,99 €, ISBN: 978-3-8394-2892-4

 

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