Benjamin Millepieds „Nußknacker“: Arsen Azatyan, Alysson da Rocha Alves, Hiroaki Ishida

Benjamin Millepieds „Nußknacker“: Arsen Azatyan, Alysson da Rocha Alves, Hiroaki Ishida

Mit Puppenhaus und Bauklötzen

Benjamin Millepieds „Nußknacker“ am Theater Dortmund

Unter den Händen des Pariser Ballettdirektors mutierte E.T.A. Hoffmanns „Nußknacker und Mausekönig“ zum Zeichentrickfilm mit Tschaikowsky-Soundtrack.

Dortmund, 20/10/2015

Das Dortmunder Ballett läutet die Weihnachtszeit mit der Deutschen Erstaufführung von Benjamin Millepieds „Nußknacker“ in der poppig bunten Ausstattung des französischen Kinderbuchillustrators Paul Cox ein. 2005 in Genf aus der Taufe gehoben, ist es die kindlichste und asketischste Inszenierung des romantischen Tschaikowsky-Märchenballetts, die ich bisher sah. Ein einfaches Puppenhaus, das kurzerhand herumgedreht zur Konfitürenburg mutiert, wird flankiert von zwei Stromleitungsmasten, die kopfüber wie Eistüten aussehen. Dazu Weihnachtsgeschenke, verpackt wie buntlackierte Holzbauklötze, bilden die karge Möblierung der Bühne. In reinen Farben auch sind die einfachen Sackkleider und Tops gehalten.

Dank der Besetzung von Clara mit der kleinen Elevin Sarah Falk, die durch erstaunliche Ausstrahlung und Natürlichkeit begeistert, und des Nußknackers, den Drosselmeier als seinen Neffen ins Haus bringt, mit dem zarten Jungen Luis Weissert, der in der Aura eines seriös eleganten Ballerino im Miniformat gefällt, knüpft Millepied an die Uraufführung von 1892 an, in der die Hauptrollen mit St. Petersburger Balletteleven besetzt waren.

Allerdings ist Millepied weit entfernt von einer historisch akkuraten Reanimation des Klassikers. Mit größter Nonchalance schlägt er den Bogen von der damaligen Aufführungspraxis zur Animation eines Comicstrip unserer visuell-digitalen Zeit. So reihen sich die Szenen des fast handlungslosen Familienballetts wie zu einem Zeichentrickfilm aneinander und Tschaikowsky liefert seine aus Geldnot gezimmerte Partitur als Soundtrack dazu. Damals wie heute lässt sich darauf dank des genial theatralen Melodikers und Rhythmikers herrlich tanzen. Fast verblüfft sieht man die Weihnachtsgäste im Haus der jungen Bürgerfamilie – allesamt kaum den Teenagerjahren entwachsen und Freunde wohl von Klaras großem Bruder – tollen und toben, wilde Akrobatik im Boogiestil vollführen, Steppen und freien Discotanz genießend. Ganz ähnlich geht‛s später beim Blumenwalzer zu, wo Gärtner in Blaumännern mit Strohhüten und Gummistiefeln Blumenmädchen mit Terracottatopf-Hütchen und bunten Glockenröckchen über die Bühne wirbeln, werfen und hochheben.

Claras Eltern (Stephanine Ricciardi und Andrei Morariu) profilieren sich im ersten Akt mit akrobatischer Neoklassik, ganz ähnlich im 2. Akt Zuckerfee und Prinz (Jelena-Ana Stupar und Alysson da Rocha Alves) im großen Pas de deux, der choreografisch etwas dürftig wirkt. Auch im Schneeflockentanz – ausgerechnet der nicht von Kindern getanzt, sondern von je acht Damen und Herren in einheitlichen, antik anmutenden langen weißen Kleidern – distanziert sich Millepied ostentativ von der Klassik, vom klassischen Corps de ballet mit seinen unvergleichlichen großen Gruppenmustern, Reihen und Diagonalen in synchronem Duktus. Das wirkt arg banal, dünn und grob. Allerdings entschädigt die musikalische Begleitung durch den Kinderchor der Chorakademie und das Philharmonische Orchester unter seinem GMD Gabriel Feltz reichlich. Ein einziges Zugeständnis an die Romantik macht Millepied im kurzen Schneegestöber, durch das sich hier freilich nicht Klara und ihr kleiner Prinz ins Süßigkeitenland kämpfen, sondern die Eltern.

Meister Drosselmeier (Arsen Azatyan) indessen bleibt seinem mysteriösen Image treu und entwirft – gekleidet in grauen Paletot und überdimensional riesigen Zylinder – seine Zaubereien am Tablet – für die Zuschauer sichtbar dank Projektion auf eine riesige Leinwand, die den festlichen roten Samtvorhang des Theaters ersetzt.

Seine Mitbringsel sorgen für beste Laune auf der Bühne wie im Parkett: Harlequin und Columbine (Alysson da Rocha Alves und Denise Chiarioni), Zinnsoldat (Hiroaki Ishida mit schneidig hohen Sprüngen) und all die Akrobaten aus aller Welt in den Nationaltänzen, von denen er Clara und Nußknacker träumen lässt. Da darf sogar – sicher eine Neuerung für diese Dortmunder Einstudierung durch Janie Taylor und Kurt Froman – Conchita Wurst als „Lebkuchenmutter“ im langen Reifrock zum Jubel der Zuschauer in derben Stiefeln tanzen. Wohl sortiert dagegen geht der Krieg zwischen Mäusen und Zinnsoldaten über die Bühne.

Unter die großen „Nußknacker“ der Moderne etwa von Balanchine, Béjart oder Neumeier wird sich Millepieds launig vordergründige Choreografie nicht reihen. Aber als vorweihnachtliche Unterhaltung taugt sie allemal.

www.theaterdo.de

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