Die Kibbutz Contemporary Dance Company bei den „Movimientos“-Festwochen in Wolfsburg

Die Kibbutz Contemporary Dance Company bei den „Movimientos“-Festwochen in Wolfsburg

Jeder ist des Friedens Schmied

„Lullaby for Bach“ von Rami Be’er: ein Auftragswerk der „Movimentos“-Festwochen

Bei VW wird nicht gekleckert. Für die diesjährigen Festwochen wurde ein weltumspannendes Motto ausgerufen: „Frieden“. Als Kronzeugen berief der künstlerische Leiter einen Choreografen mit unzweifelhafter Kompetenz: Rami Be’er.

Wolfsburg, 01/05/2015

Bei VW wird nicht gekleckert. Für die diesjährigen „Movimentos“-Festwochen wurde ein weltumspannendes Motto ausgerufen: „Frieden“. Als choreografischen Kronzeugen berief der künstlerische Leiter Bernd Kauffmann einen Künstler mit unzweifelhafter Kompetenz für das Thema: Rami Be’er, den Leiter der Kibbutz Contemporary Dance Company. Bereits zum vierten Mal in der Autostadt zu Gast, gehört er beinahe zum künstlerischen Inventar – und spätestens seit der umjubelten Premiere seines Erfolgsstückes „If it all“ (2013) auch zu den erklärten Publikumslieblingen. Denn seine Bewegungssprache löst den Anspruch auf universale Zeitgenpossenschaft auf eine verblüffend universale Weise jenseits aller Modernismen ein.

Rami Be’er ist Schüler und Nachfolger der Company-Gründerin Yehudit-Arnon, einer Ausschwitz-Überlebenden. Aber eines wollte er nach eigener Aussage auf gar keinen Fall: das Thema auf die Holocaust-Perspektive begrenzen. In „Lullaby for Bach“ geht es ums Ganze, um die Erforschung des Themas in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diesen Anspruch unterstrich er durch die leitmotivische Verwendung eines Gedichts von Jehuda Amichai, eines beunruhigenden „Schlafliedes“, das im Kinderliederton die Schrecken des Krieges in Poesie bannt.

Der Choreograf gehört zu den Universalkünstlern seines Faches. Choreografie, Text, Bühne, Kostüme, Licht und natürlich die Musikauswahl gibt er nicht aus der Hand. Bach sollte es sein – aber statt eines der großen Werke wählte er ausgerechnet dessen vielleicht populärsten Stücke: die Aria aus den „Goldberg“-Variationen in der Version von Glenn Gould und die „Partita“. Der Ohrwurmeffekt ist gewollt: Die Stücke klingen nur an, werden immer wieder von einer bedrohlichen Geräuschkulisse regelrecht übertönt. Ob da im Hintergrund Hubschrauber kreisen, schwere Fahrzeuge rollen, Flugzeuge starten oder Peitschenschläge ausgeführt werden, bleibt der Phantasie des Publikums beunruhigend überlassen. Neben Bach gibt es noch viele andere musikalische Zeitzeugen von Rock bis Elektronik.

Es ist eine dunkle, bedrohte und traurige Welt, die der Choreograf zeigt, mit schwarzen Kletterwänden eingerahmt, über die sich eingangs ein Strom von Menschenleibern in Schwarz ergießt. Die achtzehn Company-Mitglieder – ausnahmslos individuelle Erscheinungen mit überaus hoher physischer Präsenz – scheinen wie eingefroren in ihrer Duldungshaltung. Nur Einzelne brechen aus und suchen nach Alternativen: sei es die Auslotung der eigenen Verzweiflung, sei es die Suche nach Raum für Selbstbestimmung: Immer geht es um Authentizität. Berührend ist die Begegnung zweier Männer, die jenseits aller Homoerotik das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Zärtlichkeit auszuleben wagen. In solchen Szenen wird deutlich, wie präzise Rami Be’er choreografiert. Im Probenprozess, so berichtet er im Gespräch, erarbeitet er viele Bewegungen durch Improvisation – am Ende aber will er es ganz genau haben. Eine dunkle Schlangengestalt malt unentwegt mit Kreide Spuren an die Kletterwand – irgendwann wird sie unter ironisch regnenden Rosenblättern regelrecht begraben.

Den Unfrieden kennen wir alle. Aber wie steht es mit den Gegenentwürfen, mit dem wo auch immer verorteten Paradies? Hier zeigt der blondgelockte, immer freundliche Choreograf satirischen Biss, wenn er zum Beispiel zwei Putten-Engel auftreten lässt, die gar im Kamin herabgerutscht kommen, Rokoko-Perücken tragen und pseudo-verführerisch mit den Hüften wackeln. Mehr Freundlichkeit hat er für ein aus der Zeit gefallenes junges Liebespaar übrig, ganz in Rosa, ganz kindlich naiv und unschuldig, und ganz und gar in einer eigenen Welt agierend. Und sonst? Einmal kommt eine überraschende historische Prozession auf die Bühne, in Abendkleid, Königsrobe, Narrenkluft – nichts davon ist geblieben.

Was zählt, ist der Mut des Einzelnen, ist die Solidarität der Gruppe, und die setzt der mit seiner Company im Kibbutz Ga’aton beheimatete Choreograf durchaus nicht mit Idylle gleich. Da wird tumb marschiert, da werden Fäuste extremistisch in die Höhe gereckt – und dieselbe Mentalität geißelt er auch beim hirnlosen Abtanzen zu hämmernden Elektrobeats. In Tel Aviv, einer Stadt mit ausgeprägter nächtlicher Clubszene, wird man ein solches Statement vermutlich kritischer sehen als in Wolfsburg. Dort gab es Standing Ovations zur Welturaufführung. Denn dass bei einem so schwierigen Thema am Ende mehr kluge Fragen als eindeutige Antworten herauskommen, ist ein nicht nur ehrliches, sondern auch höchst angemessenes Ergebnis.

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