Die Kraft der Evaluation

Felizitas Kleine sprach mit Günter Jeschonnek, dem ehemaligen Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste

Was hinter den Kulissen der Künstlerförderung geschieht, bleibt oft im Verborgenen und rätselhaft. Günter Jeschonnek gibt einen Einblick in die Mechanismen der Förderung und seine Erfahrungen.

Berlin, 21/12/2015

Wie die verschiedenen Gremien im Bereich der Tanzförderung arbeiten, auf welchen Grundlagen sie ihre Entscheidungen treffen und wie sie die aktuelle Tanzlandschaft sehen, bleibt oft hinter verschlossenen Türen. Günter Jeschonnek, der über 25 Jahre die Arbeit des Fonds Darstellende Künste, zuletzt als dessen Geschäftsführer, mitgestaltet und beobachtet hat, gibt in diesem Interview Einblicke in das Prozedere der Antragsbeurteilung und spricht über seine eigenen Erfahrungen mit der freien Tanzszene.

Als Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste stellten Sie das Fachgremium zusammen, das über die Anträge entscheiden kann. Nach welchen Kriterien wählten Sie aus?
Nein, nein. Ich habe Vorschläge unterbreitet, Empfehlungen gegeben. Grundsätzlich können alle Mitgliedsverbände, der Geschäftsführer und ehemalige Kuratoriumsmitglieder KandidatInnen vorschlagen. Entscheidend sind die theoretische und/oder praktische Fachkompetenz, Kenntnisse über die freie Tanzszene sowie institutionelle Unabhängigkeit. Zudem versuchten wir die Auswahl unter spartenspezifischen und territorialen Aspekten zu treffen. Aber über die Wahl entscheidet allein die Mitgliederversammlung des Fonds.

Nun tagt die Kuratoriumsrunde zwei Mal im Jahr hinter verschlossenen Türen und gestaltet die Szene der Darstellenden Künste immer neu. Ein spannendes Unterfangen?!
Für uns galt immer, flexibel und fördernd zugleich zu agieren. Nachdenken darüber, wie wir etwas befördern können und nicht darüber nachdenken, wie man etwas erschweren oder gar verhindern kann. Das bedeutet, die Grundsätze selbst auch mal in Frage zu stellen. Dabei ging es im Kuratorium oft sehr leidenschaftlich zu und es kam gelegentlich auch zu Kontroversen. Spannend war es vor allem gegen Ende. Wenn das Geld eigentlich aufgebraucht war und wir mehr Fürsprecher als Mittel zur Verfügung hatten. Dann guckten wir uns noch mal jedes einzelne Projekt an und verhandelten bis es einen Konsens gab.

Wie formierte sich dieser genau?
Grundsätzlich gab es keine Proporz-Entscheidung. Theoretisch konnten wir auch nur Tanzprojekte fördern, was wir natürlich nicht taten. Es gab da kein Spartenraster. Nur aufgrund der inhaltlich argumentierten Voten, basierend auf der Antragslektüre und der jeweiligen Kenntnis von künstlerischen Zusammenhängen wurde diskutiert. Die Projekte mussten überzeugend sein und letztlich eine Mehrheit des Kuratoriums finden. Konsens bedeutete immer, Kompromisse zu machen und die mehrheitliche Entscheidung zu akzeptieren.

Seit 1989 bereiteten Sie die Kuratoriumssitzungen vor und berieten auf der Grundlage Ihrer Erfahrungen. Was hat sich in diesen 26 Jahren grundlegend verändert und was blieb beispielsweise konstanter Streitpunkt?
Gestritten wurde gelegentlich darüber, ob der Fonds Höchstförderer sein darf und wie wir die Drittfinanzierungen aus den Kommunen und/oder Ländern bewerten sollten. Wo machen wir Ausnahmen, um Projekte auch in kulturschwachen Regionen zu ermöglichen? Dennoch, wir beteiligten uns nicht daran, die Länder und Städte ihrer Verantwortung der bei ihnen angesiedelten Künstlerinnen und Künstler zu entheben.

Sie kennen dabei nicht nur die Antragslage der letzten 25 Jahre, sondern besuchten jährlich rund 120 der geförderten Arbeiten. Wie kamen nun Antrag und Umsetzung zusammen?
Klar, es gab auch mal Enttäuschungen. Oder man sah den hohen Anspruch der Künstler auf einer Arbeit lasten. Aber grundsätzlich kann ich sagen, dass vielleicht 90% der von mir und anderen gesehenen Projekte das eingelöst haben, was sie ankündigten.

Ist das denn gut?
Wenn ich sage „eingelöst“, meine ich, dass ich einen spannenden Abend gesehen habe. Ich ließ mich bei meinem Besuch vor Ort auf das ein, was ich sah und las mir nicht vorher durch, was beantragt worden war. Manchmal kam mir dabei eine hitzige Diskussion aus dem Kuratorium erst während der Aufführung wieder in den Sinn. Ganz selten wunderte ich mich, warum wir gefördert hatten. Allein der Abend, die Energie der Akteure und die Interaktion mit dem Publikum zählten; nicht meine persönlichen Intentionen oder gar mein Geschmack.

Wie wirkten Ihre Beobachtungen und Ihre langjährige Erfahrung anschließend wieder zurück in die Kuratoriumssitzung?
Als Geschäftsführer war ich nicht stimmberechtigt. Es gab natürlich Beispiele, wo ich vehement begründete, warum wir fördern oder auch nicht fördern sollten. Entschieden hat am Ende aber das stimmberechtigte Kuratorium. Das hatte ich zu respektieren, auch wenn es mir nicht immer leicht fiel. Die Veranstaltungsbesuche machte ich wegen meines Interesses und der Wertschätzung der künstlerischen Arbeit. Man muss viel sehen, um dann Impulse im Kuratorium und auch gegenüber den Künstlern setzen zu können. Die Besuche waren da eine wichtige Form der Evaluation und nicht der Kontrolle.

Bei Ihrer großen Einlassung auf die Künstler und der Arbeit, die Sie sich um Ihre Belange machen, taucht die Frage auf, warum es keine Begründung für die Absagen gab?
Das stimmt nur bedingt. Unsere Absagebriefe enthielten vier Argumente, die in der Regel zutrafen. Aber wenn Sie von 550 Anträgen am Ende 80 aussuchen bleiben 470 übrig. Das detailliert zu begründen ist aus zeitlichen Gründen gar nicht machbar. Wie soll man einen derart komplexen Diskussionsprozess während der Kuratoriumssitzungen in einer schriftlichen Begründung widergeben? Ich hätte für jede Rekapitulation und Verschriftlichung ca. eine Stunde gebraucht. Das wären 470 Arbeitsstunden, also drei Monate Arbeit. Und dennoch: wer Erläuterungen zu den Kuratoriumssitzungen wünschte, konnte mich anrufen oder mir eine E-Mail senden. Diesen Nachfragen bin ich nie ausgewichen.

Was waren kulturpolitische Akzente und Möglichkeitsräume, die Sie im Rahmen Ihrer Fondsarbeit als Impulse zurück in die Szene liefern konnten?
Unsere kreative Bilanz, die weit über das normale Feld einer Förderinstitution hinausging, war so umfangreich, dass ich gar nicht alles aufzählen kann. Ich denke an unser erstes Symposium 2006 in Berlin oder an die Initiative für ein nationales Zentrum für die Darstellenden Künste. Daraus ist letztlich das Kunstquartier Bethanien mit seinen über 30 Labels entstanden. Oder 2009 die weltweit größte Studie zur Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland, das sich daran anschließende internationale Symposium und dazu das dicke Buch „Report Darstellende Künste“ in 2010. Das Symposium in 2006 löste einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der freien Tanzlandschaft aus. Dort kamen erstmals aus allen Bundesländern freie Theater- und Tanzschaffende aller Sparten zusammen, um über die bundesweiten Fördererstrukturen und Arbeitsbedingungen ihrer Arbeit zu sprechen und Perspektiven zu entwickeln. Das Symposium stärkte das Selbstbewusstsein der Freien sehr. Wir wollten endlich Fakten schaffen, um nicht immer wieder allgemein über die Lage der Akteure zu diskutieren. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es ja so gut wie keine Zahlen oder Diskussionen mit bundesweiter Ausstrahlung. Daraus ist zum Beispiel die dreijährige Konzeptionsförderung des Fonds entstanden, die wir 2008 erstmals ausschrieben. Sie ist natürlich eine Erfolgsgeschichte geworden, die auch Kommunen und Länder anregte, ein ähnliches Fördermodell zu entwickeln.
In jedem Fall sollte aber auch der »george tabori preis« erwähnt werden, der mit insgesamt 40.000 Euro zu den hoch dotierten Kunst-Preisen in Deutschland gehört und inzwischen seine Wertschätzung bei den Theater- und Tanzschaffenden wie auch in der Kulturpolitik und interessierten Öffentlichkeit über Deutschland hinaus findet. Seit 2010 wird mit den Preisverleihungen für die Freien ein glanzvolles und öffentliches Forum geschaffen, um herausragende und kontinuierliche Ensemblearbeit der Freien zu würdigen und auch den Ruf des Fonds weiter aufzuwerten. An dieser Stelle möchte ich unbedingt Jürgen Flügge nennen, unseren ehemaligen Vorstandsvorsitzenden. Er hatte alle diese Aktivitäten tatkräftig unterstützt und war mir in den vielen Jahren beim Fonds ein ganz wichtiger Partner.

Was für ein Defizit oder Ort für neue Akzente nehmen sie aktuell war?
Das der Fonds immer noch viel zu wenig Fördermittel hat – insbesondere auch im Kontext der sich verändernden Theater- und Tanzlandschaft und gesamtgesellschaftlichen ökonomischen Entwicklungen in Deutschland – ist kein Geheimnis. Seit Jahren wird um eine Budgeterhöhung gekämpft. 2004 gab es die letzte von 500.000 Euro auf eine Million Euro. Und damit die immer noch niedrige Förderquote von unter 15 Prozent auf 20 Prozent erhöht werden könnte, bräuchte es auch noch einmal mindestens ca. 400.000 Euro mehr. In meiner letzten Kuratoriumssitzung erhielten von 235 Anträgen 165 ein Votum als förderwürdig. Am Ende konnten wir aber nur 35 Projekte fördern. 200 Antragstellern mussten wir abschreiben. Das frustriert nicht nur die Künstler.

Dokumentation und Evaluation waren Ihnen somit sehr wichtig und generierten sehr viel Kraft. Aber lässt sich umgekehrt künstlerisches Arbeiten vorab mit Zielvorgaben und Publikumsevaluation erzeugen?
Wir gaben für die künstlerischen Arbeiten keine Ziele aus. Die Künstler stellten sich ihre Ziele selber: die Inhalte, die Themen, die geplanten ästhetischen Umsetzungen, die Anzahl der Vorstellungen und somit auch die Interaktion mit dem Publikum. Zuerst anhand dieser Beschreibungen entschied das Kuratorium über die Förderungen. Vorstellungsbesuche und Gespräche mit den Künstlern waren dann Formen der Evaluation. Bei den dreijährigen Konzeptionsförderungen luden wir nach Abschluss zur Präsentation vor dem Kuratorium ein. Das waren oft die Grundlagen für eine Folgeförderung. Insofern denke ich, dass es ein Wechselspiel zwischen künstlerischen Zielen, Formen der Evaluation und der nachfolgenden künstlerischen Arbeit gab.

Was war das Anliegen hinter dem Sonderprojekt „Un-Orte“ und welche Erkenntnis evozierte es?
Die Praxis zeigte, dass viele Künstler, die im öffentlichen Raum arbeiten, ihre Arbeiten gar nicht in den Städten zeigen können, in denen sie leben und arbeiten. Das heißt, dass sie dort in der Regel auch keine Förderung erhalten und somit bei dem Fonds aus formalen Gründen gar keine Anträge stellen können. Als ich im Sommer 2012 das Signal aus dem Haushaltsaus-schuss des Deutschen Bundestages erhielt, anstelle einer Budgeterhöhung ein Sonderprojekt zu entwickeln, sprach ich wichtige Akteure dieser Sparte und den Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum an. Wir einigten uns schnell auf die Eckpunkte: Sichtbarmachen von Un-Orten im öffentlichen Raum, Einbeziehung von Zivilgesellschaft in die organisatorischen und künstlerischen Prozesse sowie die Entwicklung von partizipativen künstlerischen Elementen. Das Symposium dazu im März 2015 machte deutlich, dass es sich bei dieser Kunstsparte um ein interdisziplinäres Feld handelt, in dem nicht nur Akteure des Straßentheaters, der Performancekunst oder der Bildenden Künste agieren, sondern deren Zusammenspiel zu überraschenden ästhetischen und gesellschaftsrelevanten Interventionen im öffentlichen Raum führt. Und hier wird es noch viel Neues geben. Für 2016 bereite ich dazu ein Buch vor.

Sehen Sie in dieser Erfahrung nicht ein elementares Beispiel für den wachsenden Wunsch nach Spartenübersprung und Weitung des Theaterbegriffs?
In jedem Fall. Das Spektrum der Projekte der darstellenden Künste wird immer vielfältiger und ausdifferenzierter. Das sahen wir an den Projektanträgen oder zuletzt bei dem Sonderprojekt. Die Grenzen zwischen den einzelnen Genres werden immer fließender. Es gibt immer weniger Projekte in sogenannter „Reinkultur“. Das einfache Geschichtenerzählen geht immer weiter zurück, weil unsere Welt auch so gar nicht mehr zu erfassen ist – auch wenn ich nach wie vor daran glaube, dass die Sehnsucht nach dem Erzählen von emotionalen und ungewöhnlichen Geschichten auf den Bühnen oder im öffentlichen Raum bleiben wird. Nur wird es dafür vielfältigere und experimentierfreudigere Formen geben, die die Zuschauer neu herausfordern. Das gilt für alle Sparten der darstellenden Künste.

Welche Rolle spielt dabei der digitale Raum?
Natürlich spielen die digitalen Medien eine immer größere Rolle, auch wenn ich von deren Anwendung nicht immer überzeugt bin. Vielleicht bin ich etwas altmodisch, wenn ich in diesem Zusammenhang an die Einzigartigkeit des Ortes glaube, an dem sich Akteure und Zuschauer leibhaftig begegnen. Gelegentlich schaffen da neue Medien eine Distanz, die mich eher langweilt. Ich stimme da George Tabori zu, der davon überzeugt war, dass es eine Rückbesinnung geben wird, für interessante Geschichten und vor allem authentische wie leidenschaftliche Begegnungen zwischen Akteuren und Zuschauern – auch ohne digitale Medien.

Wäre das ein Wunsch für die Zukunft der darstellenden Künste?
Nicht ausschließlich. Ich erlebe in den letzten Jahren einen enormen Zulauf in den freien Spielstätten. Zuschauer aller Altersgruppen. Die Neugier auf die Experimente der Freien ist groß, auch wenn logischerweise dabei nicht alles gelingt. Interessanterweise lese ich aber im Gegenzug immer mehr Verrisse in den Feuilletons zu schrillen Stadt- und Staatstheaterproduktionen. Das irritiert mich. Der größte Wunsch ist, dass die freien Theater- und Tanzschaffenden unter weniger ökonomischem Druck Projekte entwickeln und von ihrer so wichtigen Arbeit für die Gesellschaft leben können. Dafür müssen die Budgets auf allen Ebenen aufgestockt werden, was sich unser reiches Land auch leisten kann.

Herzlichen Dank.

Das Interview führte Felicitas Kleine, freie Dramaturgin und Kuratorin.
Berlin, Juni 2015

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