„Tragédie“ von Olivier Dubois
„Tragédie“ von Olivier Dubois

Archaischer Chorus

Olivier Dubois eröffnet mit „Tragédie“ das Internationale Kampnagel-Sommerfestival

Olivier Dubois bringt mit „Tragédie“ einen archaischen Chorus auf die nackte, nur mit einem Ballettteppich ausgekleidete Bühne. Nackt sind auch alle 18 Tänzer (9 Männer, 9 Frauen), von Anfang bis Schluss – und das ist nur konsequent.

Hamburg, 09/08/2013

Anders als in den Vorjahren steht beim diesjährigen Festival vergleichsweise wenig Tanz auf dem Programm, aber schon der Anfang war ein Knaller: Olivier Dubois bringt mit „Tragédie“ einen archaischen Chorus auf die nackte, nur mit einem Ballettteppich ausgekleidete Bühne, im Hintergrund begrenzen dicht an dicht hängende Plastikschnüre den Raum. Nackt sind auch alle 18 Tänzer (9 Männer, 9 Frauen), von Anfang bis Schluss – und das ist nur konsequent. Denn Dubois reduziert hier sowohl die Bewegungsform wie auch den Ausdruck auf das Allerwesentlichste, und in dieser Wesentlichkeit stört jedes Kostüm, jedes Utensil, jedes Objekt, jede Kulisse. Nie war die Nacktheit von Tänzern zwingender als hier.

Es ist diese Reduktion, gepaart mit der Magie der antiken Chorform, die dieses Stück so sehenswert und so anziehend macht. Es lässt still werden – und selten war es im Zuschauerraum auf Kampnagel so still wie bei diesem Stück. Kein Ruckeln auf den Sitzen, kein Raunen – und nur am Anfang verließen einige wenige den Saal (deutlich zu vernehmen über die knarzenden Treppen der Tribüne). Schon nach wenigen Augenblicken schlägt Dubois sein Publikum in den Bann – 90 Minuten lang, ohne Pause. Man kann sich kaum lösen von diesen Menschen und ihrer Tragödie, das Stück wirkt noch viele Stunden nach. Was auch mit der großartigen Dramaturgie zusammenhängt, mit der Dubois dieses Stück aufgebaut hat – nach altgriechischer Tradition mit Parade, Episoden und Katharsis.

Es beginnt streng formal – zuerst einzeln, später gemeinsam gehen die Tänzer zu stereotypen Paukenschlägen (elektronische Musik von François Caffenne) im Vierertakt über die Bühne – immer vier Schritte zu einem Schlag, mit ausdruckslosen Gesichtern, den Blick nach vorne gerichtet, mit gleichförmigen Bewegungen, die Arme schlicht rechts und links neben dem Körper, kaum schwingend, fast soldatisch. Alle machen das gleiche, immer wieder, an verschiedenen Stellen, in unterschiedlichen Formationen. Es kommt zu keinerlei Begegnung oder gar Berührung. Zwischendurch gehen einzelne immer wieder nach hinten durch den Fadenvorhang ab, um wie aus der Versenkung, aus dem Nichts wieder aufzutauchen.

Interessant das Nebeneinander von Takt und Rhythmus an dieser Stelle – die Musik, die Paukenschläge kommen streng im Takt, in immer gleichen Abständen, wie von einem Motor. Diese Monotonie ist charakteristisch für die Welt der Maschinen, der Lebensfeindlichkeit. Würde tatsächlich ein Paukist auf der Bühne stehen, wäre das anders. Es gäbe bei jedem Schlag eine kleine Abweichung, kein Schlag wäre wirklich gleich – das ist das Charakteristikum des Rhythmus’, er wiederholt sich, aber immer mit einer winzigen Variation, die das Ganze lebendig macht. Diese Spannung zwischen Maschine (Paukenschläge) einerseits und den sich bewegenden Menschen andererseits, die zwar alle immer vier Schritte pro Schlag machen, aber eben immer wieder anders, mit zahllosen Variationen, nie gleich – das ist die Faszination der ersten 35 Minuten in diesem Stück.

Danach verändert es sich – die Menschen brechen plötzlich aus aus dem Stereotyp, zucken mal hier mit der Hand, strecken mal da den Arm, verziehen das Gesicht, kommen für Bruchteile von Sekunden miteinander in Berührung. Dubois lässt die Tänzer torkeln und taumeln, zucken und zappeln, stolpern und stürzen, immer haarscharf aneinander vorbei. Alles bleibt ständig in Bewegung, das rhythmische Schreiten hört nie auf. Einmal sammeln sich alle auf der linken Seite, lösen die Formation aber rasch wieder auf und bilden zwei Gruppen: Frauen links, Männer rechts, bis sie sich wieder vermischen.

Auch in der Musik tut sich jetzt was, andere Klänge kommen hinzu, bilden eine neue Mélange, und so steigert sich – ähnlich wie bei Ravels „Bolero“ das Ganze bis zu einer gnadenlosen Geräuschkulisse, die man leider nur mit Ohrstöpseln ertragen kann, wodurch viele Details akustisch verloren gehen (schon am Eingang heißt es: „Es wird sehr laut, nehmen Sie den bereitgestellten Gehörschutz mit!“).

Im dritten Teil steigert sich der Tanz zu einem wütend-verzweifelten Furor, die Musik wird immer noch lauter, die Körper zucken und zittern wie in Extase, verausgaben sich völlig. Grandios der Moment, als das Stroboskop-Licht einsetzt und die Tänzer in Bewegungsmomenten erfasst, als würden sie in eine andere Welt katapultiert. Um dann doch wieder auf der Bühne zu landen und sich den hämmernden Rhythmen der Musik hinzugeben.

Zum Schluss stürzen alle auf der rechten Seite der Bühne übereinander, lösen sich wieder, stehen langsam, sehr langsam auf und verschwinden einzeln nacheinander durch den Fadenvorhang. Die letzte dreht sich noch einmal zum Publikum um, bevor die Musik abrupt abbricht – auch das ein magischer Moment.

Olivier Dubois ist hier ein Meisterwerk gelungen, dessen Faszination man sich kaum entziehen kann – auch dank der großartigen Tänzer. Möglich, dass das Stück noch mehr Magie entfalten könnte, wenn die Rauheit der alten Kampnagelfabrik mit ihren Eisenkränen und Deckenstreben noch deutlicher sichtbar wäre. Möglich, dass dieses Stück gerade aufgrund seiner Analogie zu den altgriechischen Chören auch in einem großen antiken Amphitheater noch dramatischer und archaischer wirkt. Es wäre das Tüpfelchen auf dem i. Aber auch so lässt sich nur raten: Wer noch eine der wenigen Restkarten ergattern kann: nichts wie hin!

Weitere Vorstellungen am 8. Und 9. August, jeweils 20.30 Uhr, Kampnagel
 

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