Geschichten die man nicht vergisst

„Hidden Tracks“ zum Abschluss des Leipziger Festivals Tanzoffensive 2012

Leipzig, 14/05/2012

Es macht gar nichts, wenn man den Programmzettel nicht gelesen hat. Es ist nicht verkehrt, ihn nach der Aufführung zu lesen. Die Choreografin Jennifer Ocampo Monsalve aus Kolumbien wurde zu ihrer Arbeit „Hidden Tracks“ von den Erlebnissen der entführten Politikerin Ingrid Betancourt angeregt. Dazu gibt ein Text knappe, durchaus aber ausreichende Auskunft.

Auskunftskräftig aber sind bereits schon die ersten Bilder der so dichten wie bedrückenden und berührenden Kreation, die von der Choreografin gemeinsam mit ihren Kolumbianischen Tänzern Marcela Ruiz Quintero und Gabriel Galindez Cruz zu Musik und Klangkollagen von Philip Gregor Grüneberg mit hohem körperlichem Einsatz tänzerisch und performativ durchlebt werden müssen. Und so durchleben wir beängstigende, bedrohliche und nach allgemeinem Ermessen ausweglose, tödliche Situationen von Menschen, die ihrer Orientierungsmöglichkeit beraubt worden sind. Es ist ein Stück über die Schrecken einer Entführung. Und diese Entführung beginnt mit der Vernichtung jeder Möglichkeit der Opfer sich zu orientieren. Blitzschnell verändern die drei Akteure vor unser aller Augen, ganz nahe am Publikum, äußerliche Merkmale ihrer Persönlichkeit. Die persönliche Kleidung verschwindet in schwarzen, festen Müllsäcken, fortan tragen sie was ihnen aus Müllsäcken zukommt. Überhaupt, diese schwarzen Säcke, sie umschließen in nicht zu zählender Menge den schwarzen leeren Raum der Bühne wie die nicht zu durchdringende Haut eines Schuppenpanzers. Die schwarzen Säcke werden die Gesichter der Menschen verhüllen, sie werden sie in Todesangst und Atemnot bringen und sie werden ausreichen den ganzen Körper eines zusammengekrümmten Menschen zu umhüllen wie weggeworfener Abfall. Diese Säcke können aber auch ätzenden Krach machen, wenn man sie durch die Luft schlägt, Widerstand, Protest, verzweifelter Versuch Zeichen zu versenden und auf sich aufmerksam zu machen. Der zugespielte Sound dagegen klingt fast lieblich, zirpende Dschungelklänge, exotische Vogelstimmen, ein höllisches Paradies.

Manche Szenen in ihrer minutiösen Detailverliebtheit sind quälend. Manche sind ob der körperlichen Ausnahmesituationen, in die sich die Performer begeben, allein beim Ansehen schmerzhaft. Andere wieder geben leise Zeichen von Hoffnung, gönnen Atempausen. Auf sehr subtile Weise lässt die Choreografin aus zwanghaften Wiederholungen Abstraktionen entstehen, die zu tänzerischen Bewegungen führen. Es gibt eine der stärksten Szenen, wenn der Körper einer Tänzerin sich der Bewegung verweigert, die totale Erstarrung das Leben bedroht und ein Tänzer unter Aufbietung aller Kräfte den Verweigerungskrampf seiner Kollegin geradezu schmerzhaft zerbricht. Somit führt das Stück von den Motiven einer authentischen Geschichte in die Authentizität allgemeiner Fragen nach menschlichem Verhalten unter fremdbestimmten Diktaten.

Da überzeugt diese Arbeit am stärksten in jenen Momenten, in denen es gelingt, dieses Anliegen tänzerisch zu verhandeln, wenn sich die Tänzer über das leblose Material erheben. Das sind die hoffnungsvollen Situationen voller Würde und menschlicher Überlegenheit angesichts würdeloser und unmenschlicher Ereignisse.

 

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