Schräge Erwachsenenwelt − süße Kinderträume

Ricardo Fernandos „Nussknacker“ in Hagen

Hagen, 22/10/2012

In Schieflage gerutscht sind Decken, Wände und Türen wie auch die Bilder des holländischen Grafikers M. C. Escher. Riesige, windschiefe Stühle stehen um die lange Tafel. Vater, Mutter, Fritz und Claramarie lümmeln sich, und die Gäste vollführen auf der Tischplatte akrobatische Eskapaden. Alle sind schwarz-weiß kostümiert, nur marginal unterschieden in Schnitt oder geometrischen Mustern (Ausstattung: Petra Mollérus).

Das hat klassischen Schick, aber wirkt auch so grotesk wie das abartig unnatürliche Gehabe. Da ruckt’s und zuckt’s, biegen und strecken sich alle, schneiden Grimassen. Die reinste Harlekinade ist das, zum Schluss gar mit neckischen Clownshütchen auf Glatzen und Dutts − eher eine Silvesterparty denn Weihnachtsabend-Festlichkeit. Etwas kopflastig fängt Ricardo Fernando E. T. A. Hoffmanns gespenstischen Surrealismus von „Nussknacker und Mausekönig“ in diesem ersten Petipa-Akt ein. Die Poesie des „Königreichs der Süßigkeiten“ übertüncht er später mit einem „Süßigkeitenland“ voller heutiger Näschereien. Die Charaktertänze im Divertissement heißen Lakritz, Softeis, Kaugummi und M&M, Zuckerwatte statt Blumen(-walzer), Baiser-Prinz und -Fee... Das schafft Nähe und ist kindgerecht. Nur: Warum heißt Franz nun Fritz und die kleine Schwester Claramarie (aus Klara wie bei Petipa und Marie wie bei Hoffmann), Onkel Drosselmeyer ganz neutral Drosselmeier?

Immerhin geht’s kindlich kunterbunt zu im Naschparadies. Der Weihnachtsbaum steht groß und mächtig − zweidimensional und dick beschneit − hinter einer riesigen Geburtstagstorte mit neun Kerzen; Eiswaffeln, Lakritzschnecken und Bonbons drum herum. Der unheimliche Zauberer Drosselmeier (als charismatische Idealbesetzung der schlanke, hochgewachsene Leszek Januszewski) schwingt seine langen Schwalbenschwänze und Beine um die Wette. Im elektrisch betriebenen Sperrholzschlitten fährt er Claramarie (sehr anmutig: Tiana Lara Hogan) und ihren Nussknacker-Prinzen (darstellerisch etwas steif, um so eleganter im Pas de deux: Brendon Feeney) durch das Schneetreiben. Stramme Soldaten schlagen wuselige, quietschende Mäuschen (Kinder) in die Flucht. Die kehren aber unerschrocken als süße Bonbons zurück. Zuckerwatte fällt vom Himmel. Kaugummi (Péter Matkaicsek), Softeis (Hayley Macri) und das Baiser-Paar tanzen. Fee (Yoko Furihata) und Prinz (Shinsaku Hashiguchi) zaubern mit dem Nussknacker-Prinzen einen veritablen klassischen Pas de trois mit Variationen auf die Bühne. Schnee- und Blumen- (alias Zuckerwatte-)Walzer gehören natürlich zu den Höhepunkten − schon allein wegen der Musik, die das Philharmonische Orchester, unterstützt von einem sehr guten Kinderchor, unter der Leitung des neuen Ersten Kapellmeisters David Marlow vorzüglich spielt.

Zur Musik der Apotheose steigen alle die Stufen der Tortenetagen hoch und bilden ein fröhliches Tableau. Abrupt fällt der Vorhang. Zurück bleibt an der Rampe Claramarie, den hölzernen Nussknacker im Arm, und starrt auf die schwarze Wand. Aus sind alle süßen Träume...

Dass vorwiegend in Schläppchen getanzt wird, wirkt sehr natürlich und angemessen. Besondere Leckerbissen bietet dennoch der Spitzentanz von Yoko Furihata (Baiser-/Zuckerfee) und Hayley Macri (Softeis im Arabischen Tanz). Mit klassischen hohen und weiten Sprüngen (wenn auch nicht ganz sauber) prunkt Shinsaku Hashiguchi als Baiser-Prinz. Carolinne de Oliveira ist eine dynamische Mäusekönigin, Juliano Pereira ein für das Schaukelpferd etwas zu groß geratener, aber tänzerisch ansehnlicher Bruder Fritz. Sechs neue Mitglieder hat Ricardo Fernando für seine 14-köpfige Kompanie neu engagiert. Ergänzt durch vier Gäste, Statisten und ein Dutzend Kinder machen sie die Aufführung des Klassikers möglich. Das Premierenpublikum feierte alle mit stehenden Ovationen.
 

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