Natalia Horecna bei den Proben zu „Dressed up in Tissue Paper“ von Natalia Horecna

Natalia Horecna bei den Proben zu „Dressed up in Tissue Paper“ von Natalia Horecna 

„Auf der Bühne musst du abgrundtief ehrlich sein“

Natalia Horecna über „Dressed up in Tissue Paper“ mit dem Bundesjugendballett und über John Neumeier

Hamburg, 15/02/2012

Natalia Horecna, geb. 1976 in Bratislava, kam 1994 zum Hamburg Ballett, das sie 2003 im Status einer Solistin verließ. Von 2003 bis 2006 war sie beim Scapino Ballett in Rotterdam und wechselte dann zum Nederlands Dans Theater 1, dem sie bis heute treu geblieben ist. Seit geraumer Zeit macht sie als Choreografin von sich reden. Jetzt kam sie auf Einladung von Hamburgs Ballett-Intendant John Neumeier an ihre alte Wirkungsstätte zurück, um mit dem Bundesjugendballett eine eigene Choreografie zu erarbeiten: „Dressed up in Tissue Paper“. Ein Stück, das, wie sie selbst im Programmheft schreibt, „ein kleines dunkles Märchen“ sein soll, mit dem sie „in den Teil unserer Innenwelt eintreten möchte, mit dem wir uns nur ungern auseinandersetzen.“ Gelegentlich müsse sich jeder mit seinen Schwächen, seinen Kämpfen und Ängsten beschäftigen: „Auf der Reise durch unser Leben müssen wir uns diesen Dingen stellen, sie erkennen und – so hoffe ich – lernen, sie zu akzeptieren, vielleicht sogar zu lieben.“ In der Zusammenarbeit mit Natalia Horecna sind die Tänzerinnen und Tänzer des Bundesjugendballetts erkennbar gewachsen, was in ihrem Auftritt am 16. Januar 2012 deutlich wurde. Über dieses Stück und noch viel mehr sprach Annette Bopp mit Natalia Horecna in Hamburg.

Wie kam es zu diesem Werk, warum haben Sie sich dieses Thema ausgesucht? 

Natalia Horecna: Das Stück ist meinem Vater gewidmet, der vor sieben Wochen an Krebs gestorben ist. Ich bin immer noch in einer Art Schockzustand, für mich war das ein horrender Verlust. ‚Dressed up in Tissue Paper‘ spiegelt sehr viel von dem, was er durchgemacht hat. Er wollte so gerne noch weiterleben, aber es gab keine Gnade für ihn. Das Stück enthält natürlich noch sehr viel mehr Aspekte, auch aus meinem eigenen Leben. Diverse Charaktere sind wie ein Alter Ego von mir. Manchmal denke ich, es spricht sowohl für meinen Vater wie für mich, manchmal aber auch für eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, für viele andere mehr. Es ist ja alltäglich, dass Menschen einen Verlust verschmerzen müssen oder wissen, dass sie jemanden verlieren werden.

Wie kam es zu dem Titel „Dressed up in Tissue Paper“?

Natalia Horecna: Weil es mir auf diese Symbolik ankam, das Papier als Synonym für unsere Haut, unser Herz, unser Gehirn, für alles, was so verletzlich und so leicht zu zerbrechen ist. Da gibt es viele Parallelen zu dem, was Menschen erleben, wenn etwas nicht so kommt, wie sie sich das wünschen oder in ihrer Naivität annehmen. Es gibt zum Beispiel diese Szene, wo das Mädchen um ihr Leben fleht, aber der Mann ihr zu verstehen gibt: Du wirst gehen, ob du willst oder nicht. Genau so war es bei meinem Vater, und so ist es doch bei uns allen in vielen Situationen unseres Lebens – wir wünschen uns etwas ganz sehnlichst, aber wir bekommen es nicht, das Leben hat etwas Anderes mit uns vor. Ich habe versucht, alle diese Bilder, die ich in diesem Zusammenhang gesehen habe, in das Ballett einzubauen. Situationen, auf die es keine Antwort gibt, wo wir etwas akzeptieren müssen und genau das aber kaum ertragen. Das kann etwas ganz Harmloses sein, oder auch etwas ganz Grundsätzliches. Es ist jedes Mal eine der schwersten Aufgaben, die das Leben an uns stellt, immer wieder. Darum geht es in diesem Stück. Es gibt eben nicht nur unsere eigene, individuelle Wahrheit.

Wie haben Sie diese Problematik den jungen Tänzern nahe gebracht, die ja mit solchen Dingen noch nicht so viel Erfahrung haben?

Natalia Horecna:  Ich habe ihnen dazu nicht zu viele Details gesagt, weil ich ihnen keine Angst machen wollte, und ich wollte sie auch nicht mit meinen persönlichen Erlebnissen belasten. Sie sind ja noch sehr jung, und wenn ich sie bitte, das alles auszuspielen oder es wirklich zu sein, dann ist mir das für sie noch zu riskant. Trotzdem fordere ich von ihnen, sich solche oder ähnliche Situationen vorzustellen, bis an ihre Grenzen zu gehen. Aber ich habe diese Tragik auch immer wieder durchbrochen mit Ironie, mit Humor und Witz. Und wir enden in einer Welt, in der es nur Licht gibt und Leichtigkeit, keinen Schmerz, wohl aber die Erinnerung, die Melancholie.

Sie beschäftigen sich in diesem Stück nicht mit der Aggression in unserer Umwelt, sondern mehr mit der Aggression in uns selbst. Warum?

Natalia Horecna:  In unserer Welt heute gibt es so wenig Empathie, sie ist so dekadent geworden, und ich bin ein Teil von dieser Dekadenz. Wenn ich daran etwas ändern möchte, muss ich bei mir selbst beginnen. Ich wünsche mir ein größeres Maß an Freundlichkeit und Zugewandtheit füreinander, daran muss ich mich selbst immer wieder erinnern. Dass ich Mitgefühl habe, beispielsweise mit der Tänzerin, die sich in den Proben den Zeh gebrochen hat und jetzt die Aufführung nicht mittanzen kann. Oder dass ich „Guten Morgen“ sage, wenn ich das Haus betrete, auch zu dem Pförtner, den Putzfrauen. Damit fängt es doch an.

Haben Sie die Protagonisten für die verschiedenen Rollen gezielt ausgesucht? Sie kannten die Tänzer ja vorher noch nicht. Wie sind Sie da vorgegangen?

Natalia Horecna: Das war reine Intuition. Ich hatte innerlich meinen Vater gebeten, mir zu helfen, diese Arbeit gut zu machen. Er hat mich begleitet dabei. Und ich sagte total aus dem Bauch heraus zu den Tänzern: Du machst dies, und du machst das. Jetzt stellt sich heraus: Es war genau richtig so, es war die beste Wahl. Aber ich glaube, grundsätzlich wäre jeder dieser blutjungen Tänzer in der Lage, das Entsprechende aus sich herauszuholen. Jeder von uns hat diese Seiten in sich, wir müssen sie nur freisetzen bzw. den Mut haben, sie zu zeigen.

Wie erleben Sie diese jungen Tänzer des Bundesjugendballetts?

Natalia Horecna: Sie sind großartig! Manchmal sind sie immer noch sehr schüchtern, aber im Prozess dieser Arbeit haben sie sich sehr verändert. Ich wollte sie nie wie Jugendliche betrachten, sondern ernst nehmen wie Erwachsene.

Wenn Sie die Tänzer beim Nederlands Dans Theater, vor allem bei NDT 2, vergleichen mit denen beim Bundesjungendballett, gibt es da Unterschiede?

Natalia Horecna: Es sind am ehesten Unterschiede im Bewegungsvokabular. Die Tänzer des BJB bewegen sich anders als die des NDT 2, die vor allem das Repertoire von Choreografen wie Paul Lightfood und Jiří Kylián tanzen. Der Stil im Hamburg Ballett von John Neumeier ist anders, klassischer, akademischer, aber mit einer unglaublichen Variabilität in den Bewegungen. Deshalb lässt sich beides nicht vergleichen – beide Jugendkompanien können sehr viel, jede auf ihre Weise. Bei NDT sind die Bewegungen näher am Boden, gewichtiger, aber nicht physisch, sondern energetisch. Das BJB hat dagegen eine wunderbare, unschuldige Energie, es ist eine andere Energie als die, die ich schon kenne, und deshalb zieht sie mich sehr an. Sie ist unschuldig, unerfahren, auf bestimmte Weise unreif, aber auch sehr offen, sehr formbar. Diese jungen Menschen sind bereit, sich auf alles, was ihnen begegnet, voll und ganz einzulassen. Sie haben diese Hingabefähigkeit, und das ist ein ganz großes Kapital. Jetzt brauchen sie nur noch den Mut, das auch zu zeigen, ihr Innerstes nach außen zu kehren, ihrer Phantasie die Sporen zu geben. Sie sind das noch nicht gewohnt, aber sie können es, wenn man ihnen die Gelegenheit dafür gibt.

Sind das nicht Qualitäten, die gute Choreografen immer von ihren Tänzern fordern, John Neumeier legt darauf doch auch sehr großen Wert?

Natalia Horecna: Oh ja, und wie er das abfordert, in allen seinen Stücken! Das kann man gar nicht deutlich genug sagen. Ich erinnere mich noch gut an eine Situation, ich war 18 Jahre alt und gerade erst ins Hamburg Ballett aufgenommen worden, und ich hatte eine bestimmte Passage in „Romeo und Julia“ offenbar zu akademisch getanzt. Da schrie John mich an: „Das bist nicht Du! Das bist nicht Du! Warum bist Du immer so propper? Lass es raus, zeig Dich!“ Ich musste die Szene wieder und wieder tanzen, zehn- oder zwölfmal, vor der ganzen Kompanie, bis ich es endlich kapiert hatte, bis „es“ endlich aus mir herauskam. Das war der Moment, in dem ich mir darüber klar wurde, dass jede auch noch so kleine Rolle in John’s Balletten eine Bedeutung hat. Nichts ist unüberlegt. Keiner steht nur so auf der Bühne herum. Ich bin unendlich dankbar, dass ich das lernen durfte, dass ich mit ihm arbeiten durfte. Es war ein Glücksfall, dass ich sofort aus meinem Elternhaus in die Hände von John gefallen bin, und gleich nachdem ich aus Hamburg weggegangen bin, in die Hände von Paul Lightfood und Jiří Kylián. Das sind alles die ganz großen Meister des zeitgenössischen Tanzes. Sie haben immer zu mir gesagt: Du musst abgrundtief ehrlich sein auf der Bühne. Dort sieht man alles – was du bist, wer du bist, wie du bist.

Wie wirkt sich das auf Ihre eigene choreografische Arbeit aus?

Natalia Horecna: Ich bemühe mich, den jungen Tänzern genau diese Auffassung weiterzugeben, das, was mich diese großen Lehrmeister gelehrt haben, auch die Liebe, die sie mir gegeben haben. Das ist mein Hauptanliegen. Diese Liebe ist so essentiell! Es klingt so klischeehaft, aber ich glaube, es ist wirklich die Liebe, auf die es ankommt – immer und überall. Das ist ja auch das, was John’s Werk ausmacht – da steht die Liebe in all ihren verschiedenen Erscheinungsformen und Facetten immer im Mittelpunkt, in jedem seiner Stücke. Für diese Erfahrung bin ich zutiefst dankbar.

Wie war es für Sie, nach Hamburg zurückzukommen?

Natalia Horecna: Als ich die Einladung bekam, ein eigenes Stück mit dem BJB einzustudieren, konnte ich drei Nächte nicht schlafen. Ich konnte es kaum glauben, dass John Neumeier, den ich so sehr verehre, ausgerechnet mich bittet, mit dem BJB zu arbeiten – ich fühlte mich wirklich sehr geehrt, und ich war einfach total glücklich. Auch, weil ich damit zeigen konnte, was ich gelernt habe – von ihm, von anderen. Es fühlt sich so an, als komme ich nach Hause zurück. Ich habe nie vergessen, was ich hier in Hamburg gelernt habe. All das Wissen aus meiner Hamburger Zeit hat mir beim NDT unendlich geholfen.

Könnten Sie sich vorstellen, öfter hierher zu kommen, um mit den Tänzern zu arbeiten?

Natalia Horecna: Oh - a dream would come true! Aber so weit würde ich nie denken, das würde ich nicht zu hoffen wagen. Ich bin schon sehr glücklich über diese Einladung jetzt.

Wie erleben Sie die Entwicklung im zeitgenössischen Tanz der vergangenen Jahre? Was gefällt Ihnen da, oder was missfällt Ihnen auch?

Natalia Horecna: Da gefällt mir vieles überhaupt nicht! Vielerorts wird nur noch auf hohe Beine geschaut und technische Virtuosität. Das sind dann so athletische Tänzerinnen, die aussehen, als kämen sie gerade von der rhythmischen Sportgymnastik – Hauptsache akrobatisch. Manchmal denke ich, das sind Ballerinen, die wie Maschinen funktionieren: perfekte Technik, aber kalt, steril, nichtssagend. Darüber kann ich mich furchtbar aufregen. Ich habe mir neulich bergeweise alte DVDs gekauft, mit Aufnahmen der alten russischen Elite – Kirow, Bolschoi, die großen Stars von damals. Die hatten zwar keine 180-Grad-Developpés, dafür hatten sie Ausdruck, Herz, Gefühl.

Dabei liebe ich das zeitgenössische Ballett, mein Herz schlägt sehr für die Moderne! Aber nie für diese abstrakte Welt oder das Zirzensische. Es gibt heute viele Tänzerinnen, die beides haben: eine grandiose Technik UND eine phänomenale Ausdruckskraft – denken wir nur an Alina Cojocaru! Sie ist so zerbrechlich, so zart, aber auch so kraftvoll. Und immer bescheiden, sie hat diese Demut vor dem Tanz, ich glaube, darum geht es, um diese Bescheidenheit.

Und choreografisch gesehen?

Natalia Horecna: Da gibt es eine ähnliche Tendenz: viele Choreografen reihen einfach nur Schritte und Bewegungen aneinander. Sie denken nicht darüber nach, was sie ausdrücken wollen, sondern sind krampfhaft bemüht, noch irgendetwas Neues zu erfinden. Das interessiert mich nicht. Ich möchte sehen, dass jemand an das glaubt, was er macht. Es dürfte heute kaum noch Bewegungen geben, die irgendwer nicht schon erfunden hätte. Natürlich habe ich meinen eigenen Stil, aber der definiert sich nicht unbedingt durch neue Schritte, sondern durch die inhaltliche Aussage. Jeder Schritt hat eine Bedeutung. Wenn ich im Tanz nichts mehr zu sagen habe, höre ich auf. Ich will keine leeren, nichtssagenden Stücke machen. Und als Tänzerin möchte ich auch nicht die Marionette irgendeines Choreografen sein, der keine Aussage hat in seinen Schritten. Dafür würde ich mich niemals hergeben.

Wie stehen Sie zum Einsatz verschiedener Medien auf der Bühne, in Kombination mit dem Tanz?

Natalia Horecna: Ich halte davon nicht viel. Ich betreibe keine Effekthascherei. Nichts gegen Experimente – die sind sinnvoll und notwendig. Aber man muss genau wissen, wofür und warum. Oft sind die Stücke dann total überladen, man kann zwischen allen visuellen Eindrücken das Wesentliche nicht mehr sehen. Viele nehmen dem Zuschauer auch komplett das Denken ab, servieren alles auf dem Silbertablett. Das interessiert mich nicht. Meine Stücke sind keine leichte Kost, sie sind nicht unbedingt leicht verdaulich, und da gehe ich auch keine Kompromisse ein. Man muss sie in sich aufnehmen und verdauen. Aber das ist doch nicht zuviel verlangt! Ich möchte ganz zur Essenz des Tanzes zurückkehren: zur ausdrucksvollen Bewegung. In aller Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Ich will keinen Mischmasch. Wenn ich choreografiere, dann brauche ich nur die Tänzer, eine Bühne, Musik und Licht. Mehr nicht.

Es interessiert mich auch nicht, ob meine Tänzer schön sind oder ob sie schön aussehen. Ich möchte die innere Schönheit sehen, das Ewige, das in jedem Menschen steckt. Früher war ich sehr darum bemüht, meine Kraft zu zeigen, meine Stärke. Als Tänzer stehen wir ja ständig vor dem Spiegel, kontrollieren uns, sind der Kritik ausgesetzt. Da möchtest du natürlich zeigen, was du kannst, dass du gut bist, dass du perfekt bist. Bis ich begriffen habe, dass das ein Irrweg ist. Es kommt viel mehr auf das Innere an. Eine Rolle nicht mehr zu spielen, nicht mehr so zu tun als ob, sondern sie wirklich zu sein, sie mit allen Fasern des Seins zu fühlen, eins zu werden damit – das ist das Wesentliche, und das ist innere Stärke. Der Glaube an das, was man macht. Und letztlich wieder die Liebe. Wir kommen immer wieder darauf zurück – nicht nur im Tanz, sondern in allen Bereichen der Kunst. Und des Lebens.

 

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