Zwei Petipas beim Fachsimpeln

Ein ganz besonderer Neumeier-„Nussknacker“ zu Silvester

Hamburg, 03/01/2011

Ein Silvesterabend im Hause Neumeier. Wenn der Hamburger Ballettchef als Konsul Stahlbaum zum „Nussknacker“ lädt, kommen die Hauptfiguren gleich zwei- bis dreifach. Silvia Azzoni, Hélène Bouchet und Mariana Zanotto sind die drei Marien, erst einander ablösend, indem die eine hinter dem Sessel verschwindet, wenn die andere auftaucht, dann als aufgeregter Teenager-Schwarm.

Neumeiers Inszenierung verzichtet auf den weihnachtlichen Hintergrund, die Mäuse und Märchen. Seine Deutung ist wie immer psychologisch und trotzdem traumhaft schön. Die drei Mädel schmachten bereits schüchtern den stattlichen Kadetten hinterher, die zu Besuch bei ihrer Schwester, der gefeierten Ballerina Louise, sind. Und es ist eine rührend zarte Erfindung Neumeiers, beispielhaft für seine naturalistische Beobachtung, wenn er Marie wie zufällig gegen den kraftvoll männlichen Kadettenführer Carsten Jung stoßen lässt, dieser mit Herablassung dem Mädchen den Gefallen eines Tanzes tut, in dem man ihre Befangenheit, aber auch spielerische Lust und den Vorschein weiblichen Glücks erkennt. Und dann liegt sie doch auf seinen hochgestreckten Armen wie ein zappelndes Mädchen.

Von den Kadetten bekommt sie einen Nussknacker geschenkt, stattlich steifes Männlichkeitssymbol. Gegenpol dazu ist Ballettmeister Drosselmeier, bei Neumeier ein Alter Ego Marius Petipas, der gelenkig-filigrane Schöngeist. Den gibt’s Silvester zumindest doppelt: Ivan Urban zeigt ihn als strengen Ballettlehrer, bei aller Manieriertheit des Auftretens doch eine Autorität, während der kleinere Yohan Stegli eher der verspielte Fantast ist. Wunderbar, wie die beiden Egomanen sich hier gegenseitig auszustechen trachten, wenn sie die Mäntel vor dem anderen fliegen lassen. Dann wieder fachsimpeln sie gemeinsam über Haltungen und Schritte. Einig sind sie sich in ihrem Hochmut gegenüber den Soldatenkerlen. Mit dem nach hinten gestreckten Bein wird mal eben eine Reihe dieser kraftstrotzenden Männer umgemäht. Zwar rächen die sich auch, wenn sie die Ballettmeister auf dem Po herumdrehen, aber ihre Starallüre siegt: Da landet man mal eben auf dem Fuß des Kadettenführers oder wirft sich mit Grandezza vor den anderen ins Foto.

Es ist schon eindrucksvoll, wie sich die vermehrten Solisten auf der Bühne ergänzen. Die Kadetten mit dreifachem Fritz werfen zackig ihre Glieder, und wenn sich Alexandr Trusch vom Kollegen weggedrängt fühlt, kann er sich gleich beim Gastgeber Neumeier beschweren. Der hat die ineinanderfließende Konfrontation der Generationen choreografisch sinnfällig gelöst, wenn die jungen Paare einfach quer durch die Schreittänze der Alten wirbeln.

Klar, dass aus all dem ein großer Traum wird. Marie folgt Drosselmeier zu einer Ballettprobe, Thiago Bordin wird zum Traumprinzen, und Mariana Zanotto strahlt beglückt. Joëlle Boulogne erweist sich derweil in ihrem Solo als Primaballerina assoluta mit der hauchzarten Aura von Zerbrechlichkeit und erhabener Schönheit. Da ist auch das Publikum in dem lichten Traumakt wie entrückt. Alexandre Riabko und Silvia Azzoni entschweben dann zum musikalischen Schneeflockentreiben, wobei in Hamburg leider stets der von Tschaikowsky vorgesehene Kinderchor entfällt. Könnte der nicht wie aus der Nachbarklasse in den Ballettsaal herüberwehen? Im dritten Akt führen Drosselmeiers den Marien Szenen aus ihren Balletten vor. Raffiniert wie die Mädels noch zusätzlich durch die ohnehin kopfüber, kopfunter verwickelte Harlekin-Gruppe turnen. Im Grand Pas de deux treffen die dreifachen Kadettenführer Jung, Riabko und Bordin auf die dreifache Louise von Joëlle Boulogne, Carolina Agüero und Lucia Solari, ein perfekt synchrones Hebe- und Wurftrio, getoppt noch von Riabkos Tours en l’air und Manège, Bordins leichtfüßigen Drehungen und Azzonis zarter Spitze.

Und während die beiden Drosselmeiers noch über die richtige Schlussfigur diskutieren, löst sich der Traum auf. Die drei Marien erwachen zu Hause. Mutter Anna Polikarpova schwebt im Morgenmantel herein, Vater Neumeier bringt Sekt. Nach dem Feuerwerk der Tanzkunst regnet’s Konfetti vom Staatsopernhimmel. Prost Neujahr. 

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