2000 Menschen

Am 2. Juni wird die Leipziger Red Bull Arena zum Schauplatz eines tänzerischen Großereignisses. Heike Hennig und Anna Hoetjes rufen auf zu „TURN!“

Leipzig, 21/04/2011

„Der Sache willen./ Was gilt der Einzelne,/ Was sein Gefühl,/ Was sein Gewissen?/ Die Masse gilt!“, lässt Ernst Toller 1919 in „Masse Mensch“ den Namenlosen sagen. Kaum ein Phänomen ist sozialgeschichtlich so bedeutsam und umstritten. Hatten Soziologen über das Ende der Massen nach dem Umbruch der frühen 90er orakelt, beweisen spätestens die aktuellen Umstürze in Nordafrika das Gegenteil. Immer schwingt in der Masse jene unberechenbare Ambivalenz von Aufbruch und Gefahr. Wenngleich Massen keine neuzeitlichen Erscheinungen sind, konzentrieren sich die soziologischen Studien aufs ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert. Von Symbolen (Le Bon) über das kollektive Ich-Ideal (Freud) bis hin zu mythischem Bewusstsein (Kracauer) haftet dem Phänomen Masse eine seltsame Mischung aus Angst und Faszination an.

In allen Theorien aber findet sich der Aspekt des Körperlichen: Masse ist vor allem eine Erfahrung des Körpers, die auf haptischen, somatischen, rhythmischen Dispositionen beruht. Das Projekt „TURN!“ der holländischen Künstlerin Anna Hoetjes bezieht sich auf diesen Aspekt. Hoetjes ist von Haus aus bildende Künstlerin mit Schwerpunkt Video und Fotografie. Nach ihrem Studium an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam war sie Gaststudentin an der Universität der Künste Berlin und zuletzt Stipendiatin der Künstlerresidenz LIA in der Leipziger Spinnerei.

Ihr Plan ist es, am 2. Juni eine Masse Menschen (2000!) in der Leipziger Red Bull Arena zu versammeln und unter Leitung der Choreografin Heike Hennig in Schwingung zu bringen. Damit knüpft sie an spezifische Massenerfahrungen der Sportstadt Leipzig an. Das „Deutsche Turnfest“ wurde mehrfach in Leipzig ausgetragen: Vor dem Zweiten Weltkrieg drei- und in der DDR achtmal – Leipzig war Zentrum der ostdeutschen Turnerbewegung. Masseninszenierungen als symbolische Politik waren fester Bestandteil der DDR. Bei den Turnfesten mit über 100.000 Teilnehmern waren vor allem die Eröffnungsfeiern im Zentralstadion riesige Masseninszenierungen von Körpern, die nicht zuletzt Inszenierungen der Stärke und Einheit der Nation waren (zwar im Sinne Turnvater Jahns, der aber sprach von einer ganz anderen deutschen Einheit).

Hoetjes Idee ist es, eine derartige Massenveranstaltung ideologisch und politisch zu entschlacken. Ihr geht es um das physische Beisammensein von Individuen in einer Masse. Damit ist sie womöglich dem Charakter eines Flashmobs näher, wenngleich auch dieser eine politische Message haben kann. Hoetjes geht es zum Beispiel um reales Beisammensein in einer digitalen Welt – das klingt in der Ankündigung alles etwas schwammig und kann so in der Heldenstadt Leipzig womöglich auch nur von einer Zugereisten gedacht werden. Was jedoch fasziniert, ist die Utopie der 2000 – in Worten: zweitausend – Menschen, die im Leipziger Stadion zusammenkommen sollen.

Wesentlich konkreter ist der choreografische Ansatz: Heike Hennig will sich an Turn- und Marschbewegungen orientieren und tänzerische Elemente Rudolf von Labans einfließen lassen. Dieser trug zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu bei, den Tanz aus dem starren Korsett des Balletts zu befreien und verhalf mit seiner raum-rhythmischen Bewegungslehre dem Ausdruckstanz zu seinem Durchbruch. Vor seiner Flucht nach England entwarf er die Massenchoreografie für die Olympischen Sommerspiele 1936, die aber nie umgesetzt wurde. In einem zweiten Teil soll die Erkundung des Spielfeldes erfolgen, indem die Masse geometrische Formen bildet und Teile von Hennigs Choreografie „Zeitsprünge“ tanzt. Zuletzt soll sich das subversive Element der Masse Bahn brechen – nach dem Prinzip von Instant Composition werden die Teilnehmer zu Agenten der Masse, zu Choreografen ihrer selbst. Die Masse wird unberechenbar – was dabei entsteht, ist von den Teilnehmern abhängig und kann von Ballett über Volkstanz bis zum kampftänzerischen Capoeira reichen.

„TURN!“ partizipiert am Boom des Community Dance, bei dem Tänzer und Publikum zusammen agieren. Längst schon hat diese Idee sich vom sozialromantischen Kitsch eines Royston Maldoom emanzipiert und auch „TURN! gibt hier eine neue Nuancierung: das Gemeinschaftserlebnis in der Masse als Spüren des Selbst in Raum, Zeit und Bewegung, mal mit, mal ohne politische Ambition, aber immer bewegend.

PS.: Mitmachen kann jeder. Immer samstags finden Workshops zur Choreografie statt. Wer keine Zeit hat, findet sie im Internet zum zuhause Lernen.

Kommentare

Noch keine Beiträge