Tanzen mit dem „Popcorn-Effekt“

Deutsche Erstaufführung von Nanine Linnings „Dolby“

Osnabrück, 29/11/2010

„Du kommst um sechs Uhr abends bei Hochbetrieb auf dem Bahnhof an. Um dich herum sind Hunderte anderer Menschen... Jeder fordert seinen eigenen Raum und bewegt sich ohne Rücksicht... In diesem Moment wäre es angenehm, wenn du nur den Dolbyknopf drücken müsstest, um den Lärm abzuschalten“. So beschreibt Osnabrücks niederländische Tanztheaterleiterin Nanine Linning die Ausgangssituation ihres dynamischen, extrem lauten Tanzstücks „Dolby“, das in Holland mehrfach preisgekrönt wurde. Genau diese Atmosphäre zermürbte uns bei der Ankunft im Osnabrücker Theater am Domhof: draußen Weihnachtsmarktenge, Schieben, Schubsen, Lachen, Schreien und Glockenläuten - im Foyer stickige Luft, Gedränge und Stimmengewirr. Zum Wegrennen. Aber hinter der Glastür, auf dem Weg zum Zuschauerraum über weichen Teppichboden, ebbt der Lärm wohltuend ab. Ein gleichmäßig beruhigendes Ostinato sphärischer Klänge ist auf einmal zu hören.

Beim Betreten des Parketts nehmen wir auf der offenen Bühne einen nur spärlich mit einem kurzen weißen Plisseeröckchen bekleideten Tänzer wahr. Dicke Ohrenschützer, wie sie Flugzeug-Lotsen tragen, bedecken seine Ohren. Lässig lehnt er am Bühnenrahmen. Gegenüber regen sich im Halbdunkel Gestalten. Hinten türmen sich Stoffberge. Licht aus. Musik ab. Völlig übersteuerter Punkrock scheppert unerträglich laut aus den Lautsprechern. Wie eine Echse stakst auf allen Vieren eine Tänzerin im Nylon-Anzug mit Fallschirmspringergurtzeug orientierungslos durch den Raum. Grob wird sie immer wieder von einem Mann hochgehoben und an ihrem Ausgangspunkt abgesetzt. Tänzer und Tänzerinnen stürmen herein, springen in die Luft wie Maiskörner, die unter Hitze aufplatzen.

„Popcorn-Effekt“ nennt Linning diese vom Streetdance übernommene Technik. Je mehr Tänzer sich auf der Bühne mit raffinierter Akrobatik produzieren, desto lauter wird die Musik – egal wie rasant und explosiv die Bewegungen sind oder wie lange das Team im reglosen Tableau verharrt. Aggressiv wirken diese wilden Szenen keineswegs, eher erfrischend jung und übermütig. Die elfenbeinfarbenen Kostüm-Torsi erzeugen die zauberhafte, nonchalante Poesie, die Linnings Handschrift unverwechselbar macht: hier eine barocke Reiterhose, dort ein verkehrt herum übergestreiftes Mieder oder ein Kleidchen mit Applikationen, eine damenhafte Satinbluse zur weißen Trainingshose...

Rätselhaftes passiert zwischendurch. Ein Pappmachéschaf wird hierhin und dorthin getragen. Aus einem Braunbär-Overall schält sich ein nacktes Mädchen. Eine Tänzerin wälzt sich mit weißem Ballonkopf herein. Unmerklich geraten die Stoffberge in Bewegung, plustern sich auf, formieren sich zum prallen „ich“. Der Ballon schwebt als Tüpfelchen aufs „i“. Was für eine witzige, gelungene Wendung – dieser Aufschrei in der Masse! Im Nu ist die enervierend laute Show vorbei. Die ältere Dame neben uns fragt: „Ist Pause?“ und stimmt in die Ovationen des deutsch-holländischen Premierenpublikums ein.

Nanine Linning hat ein bisschen von der holländischen Fröhlichkeit und der hochkarätigen Tanzkunst der Niederlande ins eher steife Norddeutschland gebracht. Das tut gut!

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