„AfterLight“

Russell Maliphants Nijinsky-Paraphrasen jetzt abendfüllend im Sadler’s Wells Theatre

London, 29/10/2010

Als „psychopathische Diagramme” hat Marsden Hartley „The Drawings of Nijinsky” in dem Buch ”Nijinsky. An Illustrated Monograph” interpretiert. Vera Krassovskaja meinte, Nijinsky habe „dem Papier seine ihn quälenden Halluzinationen anvertraut.” Ja, selbst ein Peter Ostwald lieferte in seiner Biografie „A Leap into Madness” noch konform eine Erklärung dafür, warum Vaslaw Nijinsky ununterbrochen Kreise gezeichnet habe. „Er drehte sich”, so sein Urteil als Psychiater und Psychotherapeut, „in die Spirale zur Manie” hinein. Erst im Zusammenhang mit der Ausstellung „Tanz der Farben – Nijinskys Auge und die Abstraktion” (2009 in der Hamburger Kunsthalle) setzte ein erstes Umdenken ein. Konfrontiert mit einer Fülle von Zeichnungen, konnte man sein Oeuvre nicht mehr abtun als Beschäftigungstherapie eines arbeitslosen Tänzers. Vielmehr erkannte man das Konvolut, das die Stiftung John Neumeier als ein Ganzes erwarb, als „integralen Teil seines Lebensprojekts”, das ihn in Beziehung setzt zu anderen Künstlern seiner Zeit.

„Wie das Schreiben und alle anderen künstlerischen Tätigkeiten”, meint denn auch Thomas Röske in seinem Katalogbeitrag „Im Schnittfeld der Kreise”, „bewertete er das Zeichnen und Malen als Arbeit an sich selbst”. Beleg dafür ist ihm ein Tagebuch-Eintrag Nijinskys. In ihm heißt es: „Ich will Gott sein, und darum arbeite ich an mir. Ich will tanzen. Ich will malen. Ich will Klavier spielen. Ich will Gedichte schreiben. Ich will Ballette schaffen.”

Möglicherweise hat sich Russell Maliphant an diese Textpassage erinnert, als er im Auftrag von Sadler’s Wells für das Jubiläumsprogramm „In the Spirit of Diaghilev” ein Solo schuf. „AfterLight (Part One)” jedenfalls bezieht sich erklärtermaßen auf Vaslaw Nijinsky, nicht zuletzt auf dessen zeichnerisches Werk. Und in der Tat: als wäre er der legendäre Star der Ballets Russes, dreht sich Daniel Proietto im Kreis. In einem einzigen Spot stehend, scheint er sich nicht von der Stelle zu bewegen, während aus dem Off Saties „Gnossiennes” erklingen. Die Welt um ihn herum ist indes ausgezirkelt - eine Lichtprojektion von Michael Hull, die sich wie seine Aura erst ausweitet, dann verwirbelt, um sich am Schluss im Dunkel zu verlieren: als sollte damit das letzte Aufflammen seiner Kunst angedeutet werden, bevor sie am Ende als Wahnsinn implodiert. Der geradezu sensationelle Erfolg seines Solos hat Russell Maliphant nicht ruhen lassen. Inzwischen hat er „AfterLight” in abendfüllender Länge im Londoner Sadler’ Wells Theatre vorgestellt, getanzt von Silvina Cortés, Olga Cobos und Daniel Proietto und erweitert um Originalmusik von Andy Cowton.

Und wie zuvor wird sein Werk eröffnet von dem Solo, in dem Proietto sich permanent um die eigene Achse dreht. Doch kaum ist er in die Dunkelheit entschwunden, treten die beiden Tänzerinnen auf den Plan: eine Konstellation, die sich auf Nijinskys ”Jeux” bezieht, sich atmosphärisch aber eher an dessen Ballettbeitrag „L’Après-midi d’un faune” orientiert. Als wären sie Nymphen, üben sich Silvina Cortés und Olga Cobos im choreografischen Gleichklang, zwei Geschöpfe, leichtfüßig und lebenslustig, die sich nicht wirklich voneinander unterscheiden: die eine ist wie die andere. Kein Wunder, wenn sich der Mann am Ende im Dreieck der Beziehungen zu verlieren droht und vielleicht gerade deshalb die Flucht ergreift. Hinter durchsichtigen Gazeschleiern positioniert, lässt sich das Stück bis zum Schluss nicht wirklich fassen.

Das Ganze erscheint wie ein Gedankenspiel, schwerelos, schön und aus einem Stoff, aus dem ansonsten allenfalls unsere Träume sind. Michael Hull projiziert mal einen bunten Blätterwald, mal eine geballte Wolkenpracht. Immer wieder aber schlägt er auch schneeweiße Schneisen in das nachtschwarze Bühnendunkel, um die Grenzen aufzuzeigen, die selbst der Fantasie gesetzt sind. Doch all das ist von Maliphant, bekannt durch seine Zusammenarbeit mit Sylvie Guillem, so einfallsreich choreografiert, dass man sich an „AfterLight” kaum jemals satt sieht. Das Stück dauert ohnehin nicht mehr als eine Stunde. Das reicht, um flüchtigen Visionen gleich das Schicksal Nijinskys noch einmal zu erhellen. Was bleibt, ist nicht das Schweigen. Das Dunkel währt, wie man nur allzu gut weiß, noch vierzig Jahre.

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