Ein Träumer unter Degas‘ Ballettmädchen

Christopher Wheeldons „Schwanensee“ als deutsche Erstaufführung

Karlsruhe, 23/11/2009

Zwischen den radikalen Modernisierern wie Mats Ek und den belesenen Rekonstrukteuren der historischen Urfassungen scheint es heute nur noch wenige Choreografen zu geben, die sich an Neuinszenierung der großen Ballettklassiker im traditionellen Stil wagen. Überall werden sorgsam die aufwendigen Fassungen gepflegt, die zwischen den 60er- und 80er Jahren entstanden, man reicht sie von Kompanie zu Kompanie weiter und umgeht so in Zeiten schmaler Etats das Risiko des Scheiterns. Ein neuer klassischer „Schwanensee“ wird so schon fast zum Ereignis, zumal am Badischen Staatstheater, wo sich Ballettdirektorin Birgit Keil mit ihrer gerademal 30 Tänzer zählenden Truppe immer wieder an Werke wagt, die für weit größere Besetzungen gemacht wurden. Jetzt hat sie auch noch einen der Stars der Szene an Land gezogen. Der Brite Christopher Wheeldon wurde als erster Choreograf nach George Balanchine fest ans New York City Ballet engagiert wurde und von der amerikanischen Presse bereits als dessen Nachfolger gefeiert – als der Mann, der das klassische Ballett in die Zukunft führen soll.

Sein „Schwanensee“, bis dato das einzige abendfüllende Handlungsballett des 36-Jährigen, entstand vor fünf Jahren fürs Pennsylvania Ballet in Philadelphia und ist nun in deutscher Erstaufführung in Karlsruhe zu sehen. Wheeldon verlegt die gesamte Märchenhandlung in einen Ballettsaal, eine Idee, die auch schon John Neumeier mit seinem „Nussknacker“ hatte. Hier ist der Solist einer Ballettkompanie, die gerade „Schwanensee“ probt, derart zwischen Realität und Traum hin- und hergerissen, dass er praktisch in seiner Rolle lebt. Die weißen Akte mit den Schwänen finden in seiner Fantasie statt, die Gesellschaftsakte, also der erste und der dritte, spielen in einer realen Welt, wie sie der Maler Edgar Degas in unzähligen Bildern festgehalten hat: hinter den Kulissen der Pariser Oper, wo Mäzene und Abonnenten um die hübschen Ballettmädchen in ihren bauschig langen Tutus herumscharwenzeln. Sie sehen wir in ihren Korsagen und Proberöcken, mit Stolas um die Schultern und sogar den Bändchen an den Handgelenken wie in manchen Degas-Bildern. Wir sehen den strengen Ballettmeister mit dem langen Stock, einen riesigen, halbblinden Spiegel mit Goldrahmen und hohe Flügeltüren, die nach allen Seiten aus dem Saal führen (das Bühnenbild stammt von Adrianne Lobel). Degas‘ Bilder entstanden etwa zu der Zeit, als Tschaikowsky seine „Schwanensee“-Partitur schreib – dass das Werk im Paris des 19. Jahrhunderts nie getanzt wurde, darf man wohl einfach der Märchenhaftigkeit der Geschichte zurechnen, die Wheeldon durchaus bewahrt. Einer der dunklen Zylinderträger nun, der wie auf Degas‘ Bildern die Probe beobachtet, mutiert zum bösen Zauberer Rotbart, der dem verunsicherten, träumenden Helden im Ball des dritten Aktes eine funkelnde schwarze Diva vor die Nase setzt statt des weißen Traumwesens, in das er sich in seiner Fantasie verliebt hatte.

Tischt uns der Choreograf eine Parabel auf die Sponsoren und Mäzene auf, die dem armen, in seinen Fantasien gefangenen Künstler übel mitspielen, will er uns die Bestechlichkeit der Kunst hinter dem romantischen Ideal zeigen? Führt der zynische, kahlköpfige Rotbart (dessen frappierende Ähnlichkeit mit Wheeldons Kollege Wayne McGregor sicher nicht beabsichtigt ist) dem träumenden Siegfried einfach nur die Realität vor Augen, das heißt die echte, berechnende und käufliche Tänzerin hinter dem weißen Schwan? Der Gedanke lässt sich bis zum allerletzten Bild verfolgen, über dem sich der Vorhang schließt: der verunsicherte Held steht vor einer Ballerina und weiß nicht, ob er die kapriziöse Tänzerin liebt oder die zarte Figur, die er gerade in seinen Träumen für immer verloren hat. Vor allem an dieser Stelle vermisst man eine starke Persönlichkeit in der der Hauptrolle, eine geheimnisvolle Tänzerin, die genau diese zweideutige Faszination ausstrahlt – die blutjunge Rafaelle Queiroz beeindruckt zwar immer wieder mit hohen Sprüngen und ihren ultralangen Gliedmaßen, tanzt aber insgesamt sehr direkt und geradeaus, ohne allzu feine Phrasierung. Am Premierenabend war sie mit der Weichheit der Schwanen-Port-de-bras wie mit den virtuosen Kunststücken des Schwarzen Schwans noch überfordert. Elegant, aber ebenfalls mit kleinen Unsicherheiten tanzte Flavio Salamanka den träumenden Siegfried – obwohl er nicht besonders viel zu tun hat, gewinnt die Rolle bei Wheeldon stark an Präsenz und Charakter. Bestechend exakt und homogen schwebte das Corps de ballet der Schwäne über die Bühne, als der heimliche Star des Abends.

In den Schwanen-Szenen sowie in den beiden zentralen Pas de deux der Protagonisten orientiert sich Christopher Wheeldon an der traditionellen Choreografie von Lew Iwanow und Marius Petipa. Problematisch allerdings wird es im dritten Akt: Der Ball taumelt am Rand der Parodie dahin und rückt die Nationaltänze ganz bewusst in ein zweideutiges Licht – nach einem sehr trockenen Pas de quatre, der die Ballerinen wie akademische Zirkuspferdchen aussehen lässt, mutiert der russische Tanz trotz stilechter Kostümierung mit Tiara und Tüchlein in der Hand zum Striptease für die geifernden reichen Männer. Beim spanischen Tanz wird bewusst übertrieben, wie der Csárdás schockieren soll, wird leider gar nicht klar, aber zur italienischen Tarantella gibt es dann einen waschechten Can-Can wie aus dem Moulin Rouge. Die in diesem Akt hässlichen, billig glitzernden Kostüme stammen von Jean-Marc Puissant, der andererseits ausnehmend schöne Schwanentutus entwarf – keine geraden Teller, sondern leichte, fließend-wippende kurze Röckchen. In den großen Szenen des Corps de ballet entfaltet sich dann Wheeldons Meisterschaft, wenn er die nicht eben handliche Zahl von 18 Schwänen in immer neuer Architektur arrangiert und die Magie der weißen Akte aus der Schönheit der abstrakten Form heraufbeschwört, wenn sich Kreise in Diagonalen auflösen und Dreiecke in Geraden, ohne das übliche Gerenne, sondern organisch und wundersam leicht.

Der Brite ist ein Meister des Corps de ballet, was kaum ein moderner Choreograf noch kann; mag die Bühne in diesen Szenen auch noch so steril aussehen, wenn die graublauen, durchsichtigen Wände hinten zwar die Sicht auf eine Wasserfläche freigeben, den verzauberten Mädchen aber ohne Wald und Natur das nächtliche Mysterium fehlt. Christopher Wheeldon ist kein Schritte-Erfinder, er erweitert das Vokabular nicht; seine Klassik lässt nur ganz wenige ungewöhnliche, außerklassische Elemente zu. Er ist in seiner Architektur auch nie so kristallklar, so konsequent wie Balanchine, weil die Bewegungen stets eine Spur leichter und romantischer fließen. Mit einer ganz besonderen Musikalität stellt er letztlich doch die Schönheit über die Liebe zur Geometrie.

www.badisches-staatstheater.de

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