Jahrhundertfrau des modernen Tanzes im Spannungsfeld deutsch-deutscher Geschichte

„Palucca – Die Biografie“

Berlin, 26/03/2009

Auf dem Cover der soeben im Berliner AvivA Verlag erschienenen Biografie posiert Palucca sonnengebräunt mit Strohhut und bauchfreiem Top im Freien vor Sommerwolken auf Sylt – modern, lebensfroh, kraftvoll. Die Autorin Susanne Beyer (Jg. 1969) nennt ihr Buch selbstbewusst „Palucca – Die Biografie“. Der Titel macht diese Lebensbeschreibung zurecht singulär. Die Journalistin konnte für ihr Buch erstmals die bis vor kurzem gesperrte Privatkorrespondenz (1000 Briefe) der charismatischen Tänzerin und Tanzpädagogin des modernen Tanzes in der Akademie der Künste sichten und mit anderen, teils neuen Quellen aus Privatarchiven und Interviews in Bezug setzen.

Palucca ist „nun endlich im Dialog mit ihren Freunden zu beobachten, mit Bekannten, Verwandten, mit Funktionären, Friseusen und Intendanten (...) Aus den herzergreifenden und sachlichen, barschen und liebevollen Briefen ihres Nachlasses lässt sich viel herauslesen: Zurückgeholt in ihre Zeit und in ihr Umfeld bekommt Palucca Konturen: Das Prinzip Palucca wird sichtbar“, formuliert Susanne Beyer im Vorwort (S. 14). In diesem Fokus beschreibt sie den Lebensweg der Margarethe Paluka, die als Palucca (1902-1993) zur Jahrhundertfrau des modernen Tanzes im Spannungsfeld deutsch-deutscher Geschichte von der Kaiserzeit bis zum Ende der DDR werden sollte, mit akribischer Entdeckerfreude und Respekt. Aus der Sichtung dieser Privatkorrespondenz, sowie aus einer Fülle neuer Dokumente und deren aussagekräftiger Kommentierung im jeweiligen historischen Kontext durch die Autorin entsteht in mehrfachen Schichtungen ein lebendiges und faszinierendes Porträt des widersprüchlichen Menschen Palucca und der Menschen in ihrem künstlerischen und alltäglichen Umkreis in einer zeitlichen Spanne von mehr als sieben Jahrzehnten.

Palucca, eine bewunderte Weltenwandlerin zwischen Ost und West, Ikone des Tanzes und der Stadt Dresden – wie vollzog sich ihr „Transfer-Leben“ (...) „durch die Himmel- und Höllenfahrt des 20. Jahrhunderts“ und zu welchem Preis? Nach dem künstlerischen Bruch mit Mary Wigman 1923 wird Palucca, mit sprühendem Optimismus und körperlicher Höchstleistung“ (S. 75) die tanzende Vertreterin der Neuen Sachlichkeit, geheimnisvoll „ohne sich zu einer Weltanschauung zu bekennen“ (S. 78). Selbst aus großbürgerlichem Hause, heiratet Palucca 1924, gerade 22jährig, den kunstsinnigen Mühlenbesitzersohn Friedrich Bienert, der ihre Eigenständigkeit respektiert und ihre Karriere in der prosperierenden Zeit nach der Währungsreform bis zum Börsencrash 1929 als umsichtiger Mäzen unterstützt. „Sie war nun, in wenigen Jahren, zu einer der bekanntesten Tänzerinnen Europas geworden, aber sie hatte auch ungeheuer viel Kraft, Geld und Werbemittel investiert, und sie wusste, dass die Stimmung jederzeit kippen konnte“ (S. Beyer, S.111).

Bienert organisiert ein Netz von Förderern und Bewunderer, insbesondere zu den avantgardistischen Bauhauskünstlern. „Es waren keine Bohemiens, die zwischen Dessau und Dresden das Künstlerleben bestimmten, sondern Bürgerkünstler, geprägt von der Kaiserzeit“ (S. 119) resümiert Susanne Beyer.
Nach der Scheidung 1930 wird der 15Jahre ältere Publizist Dr. Will Grohmann der neue Mann an Paluccas Seite. Unter dem Pseudonym Olaf Rydberg schreibt er ein Buch „Über den totalen Menschen“ Palucca, deren neue sportlich energiegeladene Ausdruckskraft das Publikum begeistert. Palucca repräsentiert den Zeitgeist und diese Anerkennung machte sie anfällig für das Hitlerregime.

Dokumentiert ist der emotionale Briefwechsel mit ihrem langjährigen jüdischen Agenten Arthur Bernstein, von dem sie sich trennt. Die kulturpolitische Integration des „Deutschen Tanzes“ und das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen Mary Wigman und Rudolf von Laban sowie Palucca und Mary Wigman im Zusammenhang mit den Tanzfestspielen und den Olympischen Sommerspielen 1936 werden durch die neuen Quellen aus dem Bestand der Akademie der Künste und deren fundierte Kommentierung durch die Autorin vertieft. Martha Graham lehnte es ab, 1936 ins rassistische Deutschland zu reisen. „Deswegen konnten Wigman und Palucca ungehindert weiter proben – sie waren nicht auf den Gedanken gekommen, durch Grahams Absage ihre eigenen Auftritte bei den Spielen in Frage zu stellen“ (S.177). Bewusst eröffnet die Autorin vielerorts, insbesondere mit Verweisen auf den jüdischen Chronisten Victor Klemperer, auch andere Perspektiven für die Bewertung des Zeitgeschehens und die Konsequenzen für das Handeln der Akteure.

Nach dem Kapitel „Aufstieg im Nationalsozialismus“ spiegelt die Autorin genauso detailgenau Paluccas „Abstieg im Nationalsozialismus“. Sie spricht von Palucca als „Zwischenfigur“ (S.190), die ihren durch Sondergenehmigung (Mischling 1. Grades/Halbjüdin) eingeschränkten Handlungsspielraum im NS-Staat (Auftrittsverbot an Staatlichen Bühnen, Schließung ihrer Schule 1939) dennoch zu nutzen weiß. Susanne Beyer erwähnt den Brand der von Semper gebauten Synagoge ebenso wie die Auswirkungen der Wannseekonferenz vom 20.1.1942 auf die Dresdener Juden. Palucca aber trat in der Spielzeit 1942/43 99-mal auf, logierte in luxuriösen Hotels. Sie war nicht bedroht, hatte viele alte und neue Freunde, reiste nach List auf Sylt. Zum Kreis lesbischer Frauen, mit denen sie sich anfreundete, gehörte auch die renommierte Dresdener Kinderärztin Dr. Marianne Zwingenberger. Susanne Beyer resümiert: „Anpassungsbereitschaft bis zum Äußersten und völliger Eigensinn, diese Gegensätze gehörten zu ihr. Sie war bestimmt (...) von einer irritierenden Polarität. Sie machte es dabei den Menschen, die sich mit ihr beschäftigten, nicht leicht, sie in politische, in moralische Kategorien einzuordnen“ (S.204).

Die Ausrufung des „totalen Krieges“ am 20.8.1944 bedeutete Arbeitsverbot für 45000 angestellte künstlerische Mitarbeiter an 400 Theatern; für Palucca bedeutete es die erste unfreiwillige Arbeitspause nach zwanzig Jahren „Es war auch“, so Susanne Beyer, „ein Entzug von Beifall und der Droge Ruhm. Sie nahm ab, wurde so dünn, wie sie es von nun an für immer bleiben sollte“ (S. 208). Die vernichtenden Bombardements von Dresden skizziert die Autorin unter Einbeziehung persönlicher Quellen in parallelen Berichten des Infernos. Dresden blieb trotz mancher Verlockungen Paluccas künstlerische und private Heimat, ihr Refugium in Vitte auf Hiddensee sollte es (ab 1948) werden. Nach 1945 steht Paluccas Kampf um und jahrzehntelanges Engagement für ihre Schule im Mittelpunkt. Paluccas Bekenntnis zu Dresden erwuchs aus einem Gefühl des Gebrauchtwerdens und der Verehrung durch Schüler, Mitarbeiter und Öffentlichkeit.

Die recherchierten Dokumente unterstreichen, wie sie ihre Kontakte und ihr künstlerisches Renommee (bei Ausblendung ihres Engagements zwischen 1933-1936) mit hohem Einsatz in der kulturpolitischen Neuorientierung der SBZ und in der DDR flexibel zu nutzen verstand. Die Verstaatlichung ihrer Schule 1949 brachte Sicherheit und ein Ausnahmegehalt. Palucca selbst hatte seit der Unterbrechung ihrer Lehrtätigkeit aufgrund der Eingriffe der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten in die Gestaltung der Lehrpläne 1953 und ihrer daraufhin erfolgten Berufung zur Künstlerischen Leiterin der Schule (1954 bis 1973) auch auf der Klaviatur einer privilegierten Sonderposition mit den staatlichen Stellen zu spielen gelernt.

Die hier kommentierten neuen und bekannten Dokumente bannen den Leser in ihrer Komplexität (vertieft durch eine fundierte Bibliographie) und unterstreichen detailgenau und exemplarisch am Beispiel der schillernden Persönlichkeit Palucca und wichtiger Menschen in ihrem Umkreis jene Verzahnung von gesellschaftlichen Umständen und charakterlicher Disposition für menschliches Handeln in all seiner Widersprüchlichkeit. Paluccas unbändige Rastlosigkeit, künstlerische Kreativität, Entscheidungsfreude, ihr Verhandlungsgeschick und ihr cleverer Geschäftssinn, ihr internationaler Ruf in Ost und West, ihre fordernde Leidenschaft den Freunden (insbesondere ihren wechselnden Lebenspartnern Friedrich Bienert, Will Grohmann, Marianne Zwingenberger, Irmgard Schönigh) gegenüber und ein Geflecht aus privaten und künstlerischen Kontakten über Ländergrenzen hinweg in Zeiten des Kalten Krieges und der deutschen Zweistaatlichkeit erlaubten ihr ein unangepasst angepasstes Leben auf Hochtouren.

Wie erfolgreich und schwierig es für Palucca war in den wechselvollen gesellschaftlicher Umbruchzeiten nicht nur „durchzukommen“, sondern sich auf diese immer neuen politischen und gesellschaftlichen Konstellationen einzulassen und in ihrer langen Dresdener Lebenszeit aktiv mitzugestalten, erfährt der Leser auf 400 Seiten. „Palucca – Die Biografie“ – ist ein ungemein bewegendes Buch über (mehr als) ein bewegtes Leben!

Susanne Beyer. Palucca – Die Biografie. 432 Seiten, ca. 60 Abbildungen, 24,80 EUR / 43,60 SFr, ISBN 978-3-932338-35-9 
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