Hundert Jahre wie ein Tag

Die Ballets Russes Jubiläumsgala des Bayerischen Staatsballetts – mit Gästen aus St. Petersburg, London, New York, Berlin, den Solisten der Kompanie und – nicht zu vergessen – aus Saarbrücken

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München, 07/05/2009

Hundert Jahre nach ihrer Geburt im Mai 1909 in Paris sind die Ballets Russes von Serge Diaghilew endlich künstlerisch vollwertig in Deutschland angekommen. Doch im Gegensatz zur Prinzessin Aurora, die sich an ihrem 16. Geburtstag noch nicht recht entscheiden mochte zwischen vier Prinzenbewerbern aus Ost und West und deswegen in einen hundertjährigen Schlaf versenkt wurde, hat Diaghilew zwei legitime Erben in Hamburg und München gefunden, wo sie seine Hinterlassenschaft nicht nur gewissenhaft pflegen, sondern auch zu mehren imstande sind: John Neumeier, der Amerikaner an der Elbe, und Ivan Liška, der Tscheche an der Isar. Beide wetteifern in diesen Tagen und Wochen, dem russischen Schöpfer des modernen Balletts die Ehre zu erweisen. Dabei hat München die Nase vorn – wenigstens ein paar Tage lang –, das nicht nur am letzten Sonntag mit Jiří Kyliáns „Zugvögel“ eine Uraufführung präsentierte, die als Gesamtkunstwerk aus dem Geiste des beginnenden 21. Jahrhunderts alle in den jüngsten Dezennien hinzugekommenen Medien beteiligte, und die nun mit einer Galavorstellung den veritablen Schulterschluss zwischen dem Erbe und der brandaktuellen Gegenwart vollzog.

Es war ein superber Einfall Liškas, seit zehn Jahren Chef des Bayerischen Staatsballetts, in den Mittelpunkt des Programms drei verschiedene tänzerische Versionen von Debussys „Nachmittag eines Fauns“ zu stellen, die 1912 den Aufbruch in die Moderne markierten: die Uraufführungsproduktion von Nijinsky, sodann Jerome Robbins‘ hinreißenden „Afternoon of a Faun“ von 1953 und Neumeiers Einstudierung von 1996 für das Dresdner Semperoper-Ballett, superb realisiert nacheinander von Tigran Mikayelyan (einer von Liškas Wunderboys aus Eriwan), von Vladimir Malakhov und Polina Semionova aus Berlin und den drei Hamburger Principals Otto Bubeníček, Hélène Bouchet und Edvin Revazov, die ausnahmslos alle demonstrierten, zu welch künstlerischer Hochform die Topsolisten unserer großen Opernballettkompanien inzwischen gereift sind. Einen Rückblick, woher das alles kommt, lieferten je ein Pas de deux aus „Schwanensee“ und „Dornröchen“, getanzt von Gästen des American Ballet Theatres und Mitgliedern des Bayerischen Staatsballetts.

Brückenschlagwerke waren Massines modernistisches „Parade“ (in der Ausstattung von Picasso), hinreißend verrückt präsentiert von Tänzern der Donlon Dance Company aus Saarbrücken, die sich mit schmissigem Elan in den kubistischen Unsinn dieser Music Hall Extravaganz stürzten, und Balanchines neoklassizistisch cooler (sehr cool, da ohne Prolog und Apotheose) „Apollo“, der die Entente cordiale von München und St. Petersburg demonstrierte.

Und als ob das nicht genug wäre, gab es auch noch eine Retrospektive auf die Anfänge der Ballets Russes mit den beiden Fokine-Pas-de-deux aus dem „Feuervogel“ (Mara Galeazzi und Thiago Soares vom Royal Ballet, London) und aus „Spectre de la rose“ (Jana Selina und Igor Kolb vom Mariinsky-Ballett, St. Petersburg). Um zum Finale noch in der unmittelbaren Gegenwart zu landen – mit Terence Kohlers gerade erst vor ein paar Monaten für München kreierten „Once Upon an Ever After“- gleichsam als Bekräftigung des „Ever After“, hundert Jahre nach dem Beginn jenes legendären Mai 1909 – der so ganz andere Folgen hatte als der berüchtigte Pariser Mai von 1968.

Alles in allem war‘s ein kapitaler Leistungsnachweis des Bayerischen Staatsballetts, zunächst unter der Leitung von Konstanze Vernon und seither unter Ivan Liška, in den man auch das Bayerische Staatsorchester einbeziehen muss und seinen ständigen Dirigenten Myron Romanul , der eine erstaunliche künstlerische Entwicklung durchgemacht hat seit seiner musikalisch so total verunglückten Stuttgarter „Dornröschen“-Einstudierung von Marcia Haydée vor 22 (!) Jahren beim Stuttgarter Ballett. Fortsetzung folgt (hoffentlich) aus Hamburg am 19. Mai.

 

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