Zeitlosigkeit des Themas

Mei Hong Lins Choreografie zur „Carmina Burana“ von Carl Orff

Darmstadt, 01/12/2008

Für ihre aktuelle Premiere wählte Mei Hong Lin, Tanzdirektorin am Staatstheater Darmstadt, die „Carmina Burana“ von Carl Orff. Sie arbeitet in bewährter Weise Sparten übergreifend mit Chören und Orchester. Vor ziemlich genau einem Jahr präsentierte sie die europäische Erstaufführung der Oper „Ainadamar“ von Osvaldo Golijov, in dieser Saison wählte sie einen musikalischen Klassiker des 20. Jahrhunderts, der insgesamt nur Kennern bekannt ist. Doch der machtvolle Chorsatz „O Fortuna“ zu Beginn und Ausgang der „szenischen Kantate“ hat dank mehrfacher Verwendung in der Werbung den Bekanntheitsgrad von Popmusik.

Die „Carmina Burana“ (Beurer Lieder) ist im Ursprung eine Sammlung mittelalterlicher Lieder und Gedichte, festgehalten in einer Handschrift des Klosters Benediktbeuern. Diese wurde einem breiteren Publikum erst 1847 durch eine Publikation 1847 zugänglich. Carl Orff stieß 1934 auf dieses Buch und war begeistert von dem „mitreißenden Rhythmus, von der Bildhaftigkeit der Dichtungen, von der vokalreichen Musikalität und einzigartigen Knappheit der lateinischen Sprache“. Er ging frei um mit den gut 250 Texten, traf für seine Neukompositionen eine Auswahl einzelner Gedichte oder Liedstrophen. „Weltliche Gesänge für Soli und Chor mit Begleitung von Instrumenten und mit magischen Bildern“ sollten es sein, so der erklärende Zusatz. Doch prägend wurde seit der Uraufführung 1937 an der Frankfurter Oper die konzertante Version des Stücks.

Mei Hong Lin nimmt sich also der ursprünglichen Orff’schen Intention an, wenn sie die „Carmina Burana“als Tanztheater inszeniert. Zudem betont sie die Zeitlosigkeit des Themas vom ewigen Werden und Vergehen, indem sie es in der Gegenwart spielen lässt. Nur das Schicksalsrad der Fortuna auf dem Bühnenvorhang vermittelt noch eine Ahnung vom mittelalterlichen Ursprung. Das Bühnenbild ist dominiert von großen schwarzen Regalwänden an beiden Seiten, die gleichzeitig an eindrucksvolle Adels- oder Klosterbibliotheken wie an moderne Wohneinrichtungen denken lässt. Einzelne Gefache sind farbig beleuchtbar und geben der ansonsten dunklen Szenerie einen fröhlichen Anstrich. Die Eingangs- und Schlussszene mit dem wuchtigen „O Fortuna“ wird von einer jung dynamischen Stadtgesellschaft belebt, deren Mäntel und Jacken auf die Farben der Bühnendekoration abgestimmt sind (Thomas Gruber).

Um Shortcuts handelt es sich, so das Programmheft, also um kurze Sequenzen und schnelle Schnitte. Das erscheint nur folgerichtig, denn die Schnelligkeit so mancher Rhythmen erinnert nicht an mittelalterliche Musik, sondern an die Schnelllebigkeit unserer Tage, die durch permanente Beschleunigung geprägt ist. Alle wuseln hektisch herum, während die Schicksalsgöttin in Gestalt eines Magiers das Ganze beobachtet, sich aber auch aktiv einbringt. László Kocsis ergänzt das Tanzensemble, im schwarzem Lacklederjackett changiert er zwischen Fußballstar, Rocksänger und Fernsehmoderator – häufig in großer Pose, übrigens das einzige Pathos dieser Inszenierung.

Am Anfang steht der Tod mit einem Beerdigungszug, dann erfolgt gemäß dem ewigen Kreislauf des Lebens der Frühling, hier in Form einer Massenhochzeit. Von der anfänglichen Glückseligkeit der Paare bleiben lautstarke und hilflose Streitereien. Den Chorgesang „Kramer, gib mir Farbe, meine Wangen rot zu malen“ nutzt Mei Hong Lin für den Blick auf ein Casting: An der Rampe aufgereiht sitzen die jungen Menschen, höchst nervös und warten auf ihren Probeauftritt. Der Orff’sche „Cour d’Amour“ wird zu einer TV-Show à la „Herzblatt“, die mittelalterliche Schenke zu einer kühlen Lobby, in der Sex’n Drugs die Hauptrolle spielen. Das fulminant aufspielende 16-köpfige Tanzensemble wird ergänzt durch eine geschickt integrierte Statistengruppe. Zwischen Gothic und Punk kostümiert, absolvieren die coolen Typen den immer sichtbaren Bühnenauf- und -abbau, haben aber auch kleine Auftritte, wenn sie etwa als Schicksalsboten auf dem Fahrrad die verzweifelt sich wehrende Gruppe umkreisen.

Chor (André Weiss) und Orchester (Lukas Beikircher) wirken in der Tiefe des Bühnenhintergrunds, sie sind nur diffus sichtbar. Das Pathos der Musik wird dadurch von vorneherein in die Schranken gewiesen. Erkennbar sind neben dem kraftvollen Chor auch die zarten Stimmen eines Kinderchores. Nur die Solisten sind in das Geschehen auf der Bühne integriert: Sopran (Margarete Rose Koenn), Bariton (David Pichlmaier) und Tenor (Lucian Krasznec). Als elegantes Paar in großer Abendgarderobe begleiten Sopran und Bariton die TV-Liebesszene, geben selbst Interviews, natürlich gesungene. Zu den Trink und Saufliedern schwingt der Bariton-Koch das Hackebeil und der „gebratene Schwan“-Tenor klagt sein Leid als gerupftes Federvieh in einem lächerlichen Kostüm aus Rüschenmanschetten und Papierhose.

Es gibt Phasen der Stille, die von ebenfalls beruhigten Handlungsmotiven begleitet sind, doch im Wesentlichen pulsiert das Leben unaufhörlich. Eine bewundernswerte Regieleistung von Mei Hong Lin. Nach gut 85 Minuten wird die Premiere der Darmstädter Tanzversion der Carmina Burana mit begeistertem Applaus bedacht, doch ist dieser eindeutig größer für Gesang und Orchester. Was viel mit der Erwartungshaltung zu tun hat, mit der ein solcher Abend besucht wird.

www.staatstheater-darmstadt.de

 

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