Das große Spreizen

In Wiesbaden versucht Stephan Thoss die Umsetzung von Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“ in ein Tanzstück

Wiesbaden, 16/06/2008

Die ersten fünf Minuten gehören dem Tänzer Sandro Westphal ganz allein. Der schlanke, groß gewachsene Tänzer, Titelfigur des Balletts „Professor Unrat“, das der Wiesbadener Ballettdirektor Stephan Thoss als erste Uraufführung seiner Amtszeit als tänzerische Umsetzung des Romans von Heinrich Mann auf die Bühne bringt, scheint sich von Anfang an Mühe zu geben, noch länger zu wirken, als er ist. Mit übergroßen Bewegungen fährt er Arme und Beine aus. Er zappelt und spreizt sich, als sei er vom Veitstanz unheilbar besessen: ein Grobmotoriker, der die Umwelt gleichzeitig zu zerteilen und an sich zu reißen scheint. Wenn Unrats Schüler, dummerweise etwa gleichaltrig mit ihrem Lehrer, den von Kaspar Zwimpfer erbauten, irgendwie falsch proportionierten Klassenraum, der sich per Drehbühne rasch in die große Welt außerhalb von Unrats Schule verwandeln lässt, betreten und Wolfgang Ott dem Orchester des Hessischen Staatstheaters die ersten Töne von Witold Lutoslawskis „Konzert für Orchester“ entlockt – im Verlauf des Abends werden dieser Musik „Harmonielehre“ und „The Chairman Dances“ von John Adams sowie Alban Bergs „Lulu Suite“ und zwei Arien aus der Oper „Lulu“ folgen -, ist die Aufführung bereits so gut wie tot: so gründlich hat die Choreographie ihr Zentrum diffamiert.

Merkwürdigerweise bewegen sich auch alle anderen Personen der Aufführung auf die verquere, verquaste Weise, die Stephan Thoss möglicherweise den „Schwarzen Herren“ im „Grünen Tisch“ von Kurt Jooss abgeschaut und ins noch Groteskere verzerrt hat: die Schüler Lohmann (Yuki Mori), von Ertzum (Christian Maier) und Kieselack (Gregor Thieler) wie auch die Besucher des Etablissements „Blauer Engel“; selbst für die Lola alias Rosa Fröhlich (Anna Herrmann) ist ihm nichts grundsätzlich anderes eingefallen. Erotischer macht das die Variete-Künstlerin nicht; tatsächlich ist der Wiesbadener „Professor Unrat“ so unerotisch wie selten ein Ballett. Dramaturgisch hat Stefan Ulrich, der dem Choreografen die gedankliche Vorarbeit geleistet hat, jene Abweichungen von Manns Vorlage, die Joseph von Sternbergs berühmter Film „Der blaue Engel“ (mit Marlene Dietrich) dem Stoff angedeihen ließ, wieder rückgängig gemacht, das Preußisch-Kleinbürgerliche des Romans allerdings nicht retten können. Zu sehen sein soll nicht, wie im Film, die rührselige Geschichte vom Abstieg eines verliebten alten Trottels bis hin zum Klo-Mann, sondern durchaus der vom Roman-Autor intendierte Kampf eines tyrannischen Menschenfeindes gegen die bürgerliche Gesellschaft. Doch findet dieser Kampf, wie bei vielen Handlungsballetten, vor allem im Programmheft statt, auf der Bühne ist davon wenig bis gar nichts zu sehen.

Der erste Akt des Stücks zählt zum Missratensten, was in dieser Spielzeit auf einer deutschen Tanzbühne zu sehen war. Der zweite Akt, in dem Unrat sein Haus in einen bürgerlichen Puff verwandelt hat und seine ihm nunmehr angetraute Rosa sich einem Mann nach dem anderen hingibt, setzt sich von diesen Niederungen ein wenig ab – einfach deshalb, weil Thoss sich nun ausschließlich mit dem beschäftigt, was der Tanz am besten kann: mit der Gestaltung körperlicher Beziehungen zwischen zwei Menschen. Vermutlich liegt das Problem bereits in der Sache selbst. Ein Roman wie „Professor Unrat“ ist mit den Mitteln des Tanzes und der Choreographie kaum adäquat umzusetzen, was immer auch Tanzpraktiker davon halten. „,Der blaue Engel´ müsste doch eine fabelhafte Vorlage für ein Ballett sein“, meinte einst Gert Reinholm selig, Ballettdirektor der Deutschen Oper Berlin, und vergab die Aufgabe, Manns Roman (oder das, was der Film daraus gemacht hatte) auf die Tanzbühne zu bringen, an den Franzosen Roland Petit, der den Unrat selbst tanzte und für die „fesche Lola“ keine Geringere als die Russin Natalja Makarowa zur Verfügung hatte. Trotzdem ging es auch 1985 in Berlin schon schief; statt eines choreografischen Kunstwerks kam lediglich eine opulente tänzerische Revue heraus. Aber was heißt schon „lediglich“. Mit einer opulenten Revue wäre man heute in Wiesbaden ja schon zufrieden. Doch, wie gesagt: unerotischer geht’s kaum.

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