„Berlin ist ein guter Ort für Nicht-Identitäten“

Ein Interview mit Nicola Mascia und Matan Zamir alias „matanicola”

Berlin, 30/08/2007

Vor zwei Jahren schufen der Italiener Nicola Mascia and der Israeli Matan Zamir mit „under” ein Stück, das nicht nur durch seine poetische Dichte und den subversiven Umgang mit traditionellen Geschlechterrollen beeindruckte – sondern vor allem durch seine künstlerische Eigenständigkeit. Schließlich waren die beiden, die sich nun als Duo „matanicola” nannten, zuvor jahrelang Tänzer bei Sasha Waltz & Guests gewesen. tanznetz.de sprach mit matanicola über die Suche nach einer eigenen Sprache, das Berlin der 20er-Jahre und ihre neue Arbeit „Ladies first” für sechs Tänzer, die gerade bei Tanz im August Deutschlandpremiere hat.

Frage: Wie kam es zu dem Schritt von der Arbeit in Sasha Waltz’ Company hin zu eigenen Projekten?

Nicola Mascia: Ich arbeitete seit 96 mit Sasha, und als Matan 2002 zur Company kam, haben wir uns gleich sehr gut verstanden. Ich verspürte damals das Bedürfnis, auch meine eigene Arbeit zu entwickeln. Und irgendwie kamen wir dann spontan auf die Idee, zusammen ein Projekt zu machen. Wir wollten ohne jeden Kompromiss eine eigene Sprache erschaffen, die beiden von uns gleichermaßen gehören sollte. Daraus wurde dann unsere erste Arbeit „under”.

Frage: Wie wird man Choreograf, nachdem man so lange Interpret für einen anderen Künstler gewesen ist? Muss man da Erinnerungen auslöschen, um selbst Platz zum Schaffen zu haben?

Nicola Mascia: Es geht eher darum, zu akzeptieren, was man durchlaufen hat, das alles zu nehmen und sich zu sagen: Okay, von hier aus will ich jetzt meine eigene Sprache entwickeln. Die Presse schaut Tänzer, die zu Choreografen werden, oft sehr skeptisch an. Besonders wenn man zehn Jahre lang mit jemandem gearbeitet hat, der so etabliert ist wie Sasha. Dabei waren die meisten Choreografen vorher Tänzer. Das Problem ist nur, dass viele von ihnen zunächst nicht nach einer eigenen Sprache suchen. Für uns war das ein zentrales Thema.

Frage: Wie habt ihr euch diese Sprache erarbeitet? Durch Selbstzensur?

Nicola Mascia: Das war ganz schön hart! Bei jeder zweiten Bewegung hielten wir inne und sagten: Das sind nicht wir! Am Anfang waren wir so strikt, dass wir uns fast gar nicht mehr bewegten, aber nach und nach entwickelte sich aus all den Einflüssen etwas Neues.

Frage: Arbeitet ihr heute noch mit Sasha Waltz?

Nicola Mascia: Wir tanzen immer noch sehr gerne in den alten Stücken, die wir mir ihr geschaffen haben, aber nicht in ihren neuen Produktionen. Der Ablösungsprozess war für beide Seiten sehr schwierig. „under” sollte ursprünglich als das Werk zwei junger Choreografen aus der Company von Sasha Waltz & Guests unterstützt werden. Wir wollten aber nicht unser Leben lang das Label „Sasha Waltz & Guests” tragen. Wenn man anfängt, seine ersten Stücke zu machen, ist es besser, ein bisschen weniger Geld zu haben und seine Karriere nicht von ganz oben beginnen. Aber wir werden nach wie vor von der Company koproduziert und sind dafür sehr dankbar.

Frage: Das Bemerkenswerteste an „under” war für mich die Verwendung der Kostüme, die so organisch wirken, als seien sie ein Teil des Körpers.

Nicola Mascia: Kostüme spielen eine sehr wichtige Rolle für uns – auch im täglichen Leben. Wir waren beide schon immer von Mode fasziniert, von Stoffen, die mit dem Körper in Berührung kommen. Kostüme sind für uns kein bloßes Accessoire. Wir suchen nach Kleidungsstücken, die den Körper ausdehnen oder verstümmeln, oder seine Art, sich zu bewegen, verändern. Für „Ladies first” haben wir mit dem jungen israelischen Modedesigner Yehonathan Zohar gearbeitet, weil wir jemanden wollten, der nicht aus einem Theaterkontext kommt. Und das erste, was wir zum ihm sagten, war: Wir wollen Kostüme haben, die unsere Bewegungen behindern.

Matan Zamir: Uns interessiert, wie die Kostüme sich auf die Choreografie auswirken. Je mehr Begrenzungen sie unseren Körpern auferlegen, desto interessanter sind sie für uns, denn gerade durch die Schwierigkeiten helfen sie uns, etwas Neues zu entdecken.

Frage: Gibt es zwischen „under” und „Ladies first” eine Kontinuität?

Nicola Mascia: Was den Umgang mit Kostümen und Körpern angeht, auf jeden Fall. Ästhetisch sind beide allerdings sehr verschieden. „under” war ein sehr getanztes Stück, und „Ladies first” ist viel installationsartiger oder skulpturaler – dadurch aber auch nicht weniger physisch.

Frage: Mit „under” habt ihr den diesjährigen Kurt-Jooss-Preis für die beste Nachwuchschoreografie gewonnen. Der Name Kurt Jooss ist untrennbar mit dem deutschen Tanztheater verbunden. Seht ihr euch in dieser Tradition?

Nicola Mascia: Es war sehr schön, ein so positives Feedback von Leuten zu bekommen, die nicht zu unserer Generation gehören und deren Hintergrund und Interessen ganz anders sind als die unseren. Wir würden unsere Arbeit selbst nicht als „Tanztheater” bezeichnen. Zwar benutzen wir diese Tradition als Basis, aber wir sind eigentlich nicht an einem rein dramaturgischen oder theatralen Arbeiten interessiert. In „Ladies first” ist der dramaturgische Faden sehr abstrakt, doch manchmal erscheinen für einen kurzen Augenblick Figuren, die eine Art Handlung andeuten. Wir haben eine dramaturgische Linie mit einer abstrakten verwoben.

Frage: In „under” stammten viele der Bilder aus dem Bereich des Clubbing und der Gay-Szene. Was ist der Bezugsrahmen bei „Ladies first”?

Nicola Mascia: Wir haben viel über die Zeit zwischen dem Berlin der frühen Zwanziger bis zum katastrophalen Kriegsausgang 1945 gelesen. Dabei interessieren wir uns sehr für die Kultur der Cabarets und die kurzen Momente der Freiheit, der der totalen Repression vorausgingen.

Frage: Das heißt, das Stück ist stark mit Berlin verbunden?

Nicola Mascia: Es ist unsere Hommage an diese Stadt. Berlin ist für uns beide sehr wichtig. Hier haben wir uns getroffen, hier arbeiten wir – und trotzdem sind wir beide nicht von hier. Auch heute noch ist Berlin ein sehr symbolischer Ort für solche Nicht-Identitäten – und für jede Art ein wenig anderer Identität.

Matan Zamir: Außerdem scheint hier jeder Stein Geschichte geradezu herauszuschreien.

Frage: Warum heißt das Stück „Ladies first”?

Nicola Mascia: Weil wir uns in der Arbeit stark mit Crossdressing und Genderfragen beschäftigen - und weil wir alle Männer sind (lacht). Gleichzeitig ist „Ladies first” eine Verbeugung vor den „echten” Ladies in den Cabarets der 20er Jahre, die vor einem überwiegend männlichen Publikum auftraten.

Link: www.matanicola.com

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