Balé da Bahia eröffnete das MOVIMENTOS Festival

Vielfalt der Persönlichkeiten

Wolfsburg, 23/04/2007

Balé da Bahia, Tanzensemble aus Salvador da Bahia, der Millionenstadt im nordöstlichen brasilianischen Bundesstaat Bahia, eröffnete die diesjährigen MOVIMENTOS, „Festwochen der Autostadt in Wolfsburg“. Die, wie von den Vorjahren gewohnt, mit beträchtlichem Aufwand betrieben wird. Ob an der Pontonbrücke, die über den Hafen zum Kraftwerk, dem Aufführungsort, führt, ob am Eingang zum Inneren, den Treppen, den Portalen zur Veranstaltungshalle: Überall stehen gut aussehende Frauen und einige Männer, die die Besucher begrüßen, ihnen schließlich mit unerschütterlicher Freundlichkeit den Weg zu ihren Plätzen weisen. Natürlich gibt es in der bahnhofshohen Wartehalle Bars, in einem Seitentrakt gar eine Lounge. Alles eingebettet in die brachiale Stahl- und Betonkonstruktion mit einigen dekorativ beleuchteten Resten der ursprünglichen Leitungen und Maschinen. Und von weit oben tröpfelt Wasser über mehrere Stockwerke herab in ein Bassin, in dem sich gar wunderliche Formen bilden. Das Publikum, bunt gemischt aus mehr älterer, aber auch aus gut vertretener jüngerer Generation, lustwandelt durch die Werkskulisse. Das hat was, wirkt größer, perfekter als Hamburgs Kampnagel, besitzt jedoch nicht dessen Atmosphäre.

Die brasilianische Kompanie, gegründet 1981 in Salvador da Bahia, besticht durch vitale Körperlichkeit, explosive Sprungkraft (bei einigen der Männer) und totale Hingabe. Erfrischend ist die Typologie der Tänzer/innen: groß, mittel, klein, gertenschlank, ausgeprägte weibliche Formen, muskulös, gedrungen, hoch gewachsen. Die Vielfalt der Persönlichkeiten einer wohl gewollt heterogenen Kompanie, weit weg vom Einheitslook mancher klassischen Gruppe, hält das Auge mit immer wieder neuen Profilen fest.

In der Choreographie „Paradox“ (Tindaro Silvano, Uraufführung April 2000), der besten des Abends, verdichten sich diese Stärken der Gruppe. Magische Momente entstehen, wenn sich schattenhafte Gestalten vor schwebenden Lichtern zu einem rauen Song bewegen. Männer- und Frauengruppe beginnen ein Frage- und Antwortspiel, biegen sich gegeneinander. Ein Körperzittern scheint eine Katastrophe anzukündigen. Frauen ziehen ihre hohen Schuhe aus, werfen sie weg, tanzen hinterher und schleudern sie zurück. Von einer Handlung kann also keine Rede sein, vielmehr reiht Silvano Spannungsmomente aneinander, die für sich meist einen Sog ausüben. Mit brennender Zigarette treten Frauen auf, einen schwarzen Streifen über die Brüste gebunden, dazu enge, kurze Pants, sie schlagen mit ihren Armen, als seien sie Vögel. Urtümlich wirkt der folgende Auftritt des Ensembles auf der Diagonalen von hinten nach vorn mit einem seitlich geöffneten Hocksprung. 

Silvano scheut vor dem Effekt nicht zurück: Zum Percussion-Rhythmus wird zeremoniell zweimal der Beischlaf in Missionarsstellung vollzogen. Zwischendurch lässt er seine Leute nach vorn zum Bühnenrand robben und skurrile Posen einnehmen: Geschenkt. Jedenfalls hat er ein gutes Gefühl für Timing, kurz bevor sein Stück auszufransen droht, macht er Schluss: Eine tanzt auf ein Licht im Hintergrund zu.

Eben diese Selbstkontrolle besitzt Mário Nascimento offenbar nicht. Sein viel zu langes Stück „Devir“ (Uraufführung November 2006) läuft wie ein Kaleidoskop ab: Bunte Bilder wechseln schnell, wie mechanisch abgespult. Die Tänzer/innen tanzen nicht miteinander im Sinne von emotionalem Kontakt, sondern nutzen unermüdlich einander als Wurfgeschoss, Beschleunigungsantrieb, Hebe- oder Drehimpuls. Ihre gut gewachsenen Körper zeigen ein, zwei Männer und eine Frau, indem sie sich ausziehen. Für was? Seine Stärken zeigt Nascimento bei einer verzerrten Folkloremusik mit bizarren, teils eingedrehten Bewegungen, Oder wenn er Tierbewegungen „zitiert“, etwa im parallelen Ausfallschritt, mit dem sie sich seitlich verschieben. Oder einer „swingt“ mit jazzigem Drive nach vorn.

Zum Schluss fährt Balé da Bahia großes Geschütz auf mit einer Sanctus Suite (1985 Salvador), einer abenteuerlich frechen Musikmischung aus Orffkopie, klassischem Gesang, Allah-Anrufen und offenbar Stammesgesängen (arabisch?). Dazu gestaltet Choreograph Luis Arietta ein Geschehen, das zwischen Pathos, Kitsch und faszinierenden Abschnitten balanciert, mit gelegentlichen Abstürzen ins Zweite. Faszinierend der Beginn: Eine Gruppe richtet sich im roten Dämmerlicht ruckhaft auf mit zeitlich versetzter Abfolge derselben Bewegung, dazu wird es immer heller. Das wiederholt sich gegen Ende. Von hinten schreitet später ein Mann auf einer Lichtdiagonale nach vorn; ein weißer, endlos langer Schleier, von anderen herein getragen, dient als rituelles Tuch. Danach mutiert der Stoff zu einem kreisrunden Riesenrock, in dessen Mitte ein Mann wie Jesus steht. Der Rock wird so geschickt angehoben, dass er sich wie eine Glocke über die Tänzer/innen wölbt. Zu vereinzelt entwickeln sich diese Augenblicke; im Ganzen langweilt das Werk über weite Strecken, weil es keine Struktur gewinnt, die den Tanz vor der Musik eigenständig profiliert.

Das Publikum in der ausverkauften Halle applaudiert heftig.

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