Weit weg vom deutschen Ausdruckstanz

Die Martha Graham Dance Company auf Deutschlandtournee

oe
München, 01/08/2006

Die Schwierigkeit mit den koeglerjournals von unterwegs: da sitze ich am frühen Morgen in meinem Hotelzimmer, im Zug oder im Flugzeug ohne jede Möglichkeit, Fakten zu recherchieren. So auch jetzt wieder beim Münchner Gastspiel der Martha Graham Dance Company im gut besuchten, beifallsfreudigen Prinzregententheater.

So viele Erinnerungen kommen da hoch, ohne dass ich sie datenmäßig exakt dingfest machen könnte. Zum Beispiel an die erste Begegnung mit der immerhin schon Sechzigjährigen in der neuerbauten Berliner Kongresshalle in den frühen fünfziger Jahren und ihr erstes Treffen mit Mary Wigman. Dann das skandalumwitterte Gastspiel in Köln, bei dem zwei amerikanische Senatorinnen gegen die erotische Freizügigkeit ihrer Stücke protestierten. Dann meine Besuche während der mittsechziger Jahre in ihrer New Yorker Schule und an mein Interview mit ihr über ihre Zusammenarbeit mit Hindemith an der „Ferodiade“.

Später dann eine ziemlich desaströse Saison im Münchner Theater am Gärtnerplatz, wo sie zwar noch immer mittanzte, aber größte Mühe hatte, aus einer sitzenden oder knienden Stellung wieder auf die Beine zu kommen. Und dann ihr Gastspiel im Eröffnungsprogramm der wiedererstandenen Alten Oper in Frankfurt – das ist nun auch schon wieder 25 Jahre her. Damals kam uns das alles, infiziert vom Balanchine-Virus, hoffnungslos antiquiert vor – in den siebziger und achtziger Jahren entschieden überholt vom deutschen Tanztheater. Kein Gedanke daran jetzt in München, wo drei Stücke aus sehr verschiedenen Schaffensperioden auf dem Programm standen: „Sketches from ‚Chronicle‘“ (1936), „Embattled Garden“ (1958) und „Acts of Light“ (1981).

Achtzig Jahre alt ist inzwischen die älteste moderne Tanzkompanie der Welt. Staub hat sie nicht angesetzt, wenn ihr heute auch Persönlichkeiten vom Format Grahams selbst, Yuriko (häufiger Gast bei den Kölner Sommerakademien), Bertram Ross und Glen Tetley (!) fehlen. Doch überzeugen ihre Tänzer nach wie vor durch ihren athletisch-energetischen Drive und ihre fabelhafte Disziplin. Das ist alles sehr weit entfernt vom deutschen Ausdruckstanz (wie wir ihn uns vorstellen, denn erlebt haben wir alle ihn ja nicht mehr) wie vom deutschen Tanztheater in der Bausch-Kresnik-Nachfolge – immer aber sehr tänzerisch und äußerst musikalisch (leider zu ziemlich unsäglichen Partituren von Carlos Surinach und Walligford Riegger – besser in den „Acts of Light“ von Carl Nielsen). Gänzlich unpathetisch auch – auch in dem Anti-Kriegs-Lamento der Frauen von „Chronicle“ – auch in dem erotisch verspielten Quartett von Adam, Eva, Lilith und der Schlange (kreiert von Tetley!) im paradiesischen „Embattled Garden“.

Überraschend für mich die „Acts of Light“, eine hymnisch-chorische Fantasmagorie (zu lang) – ein durch und durch amerikanischer Gegenentwurf zu Neumeiers Mahler-Sinfonien, natürlich Modern-Dance-geprägt und barfuß getanzt. Mir kam es vor wie eine rituelle Opferhandlung im Tempel der Freiheitsgöttin, erfüllt von einem unbändigen Optimismus – zwanzig Jahre vor dem 11. September. Das lässt spekulieren, wie denn die heutige (inzwischen 113-jährige) Graham nach der verhängnisvollen Attacke auf die Twin Towers, nach Afghanistan und Iran reagiert hätte.

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