Warten auf Strawinsky

Torsten Händler verabschiedet sich mit „Le Sacre du printemps“

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Chemnitz, 18/03/2006

„Le Sacre du printemps“ annoncieren die Plakate, auf denen ein etwas belämmert dreinschauender junger Mann sitzt und auf einen über ihn in lichten Höhen schwebenden Gummibaum blinzelt. So kündigt das Ballett Chemnitz seine jüngste Premiere an. Es ist ein Abend, der mancherlei Fragen aufwirft. Denn wer ist hier das Opfer – und wo bleibt der Frühling, der zwar in den 19.00 Uhr Nachrichten endlich überall in Deutschland ausgebrochen ist? Doch als ich heute Morgen von Leipzig nach Chemnitz fuhr, sah ich nichts als Schnee allenthalben – als ob dies eher Sibirien wäre.

Man weiß ja, dies ist die letzte Premiere von Torsten Händler und dem von ihm seit fünf Spielzeiten ausgesprochen erfolgreich geleiteten Ballett Chemnitz (jawohl, das nennt sich wirklich noch so – mal sehen, ob es in der nächsten Spielzeit dann zum Tanztheater Chemnitz mutiert ist). Händler und seine Kompanie werden zum Ende der Saison bekanntlich abgewickelt. Ein neuer Intendant, ein neuer Ballettchef, ein neues Ensemble. Das Opfer: Torsten Händler und die 23 Tänzer der Kompanie. Der Frühling, so er denn kommt: die nächste Spielzeit mit lauter Reingeschmeckten? Da ist man skeptisch. Immerhin: in Karlsruhe hat‘s geklappt!

Hat Händler an diesem Abend auch Strawinsky geopfert? Jedenfalls hat er ihm ein neues Environment verpasst – und einen Gummibaum. Zusammen mit Steffan Claußner, zuständig für die Musikalische Leitung und Einrichtung, ein Allround-Musiker als Komponist, Tontüftler, Instrumentenerfinder, Jazzmann und Interpret, hat er Strawinsky erst einmal 45 Minuten lang auf der Deponie der Avantgarde herumstochern lassen. Ein Müllwerker, der dabei auch Reste der europäischen Musikkultur, von Tschaikowsky, Klazz Brothers & Cuba Percussion sowie Vivaldi zutage fördert. Da ist man heilfroh, wenn pünktlich um 20.15 Strawinsky pur einsetzt – per Band zwar, aber immerhin von Abbado mit der London Symphony.

Dazu hat ihm Hannes Hartmann einen zweistöckigen Kastenraum gebaut. Oben sitzen ein paar Normalbürger und schauen auf die elf Schwarztrikotierten herab, die sich um einen Gummibaum balgen. Mit tödlichen Folgen. Denn einer nach dem anderen stürzen sie ins Nichts des Orchestergrabens ab. Da gibt es ein paar interessante Episoden – so beispielsweise gleich zu Beginn einen geheimnisvollen Schattentanz, später dann auch ein herzlich entbehrliches „Schwanensee“-Zitat und den Auftritt eines Showgirls. Die Verknüpfung der beiden Ebenen scheint doch reichlich an den Haaren herbeigezogen zu sein. Und der Gummibaum als Machtobjekt? Na ja, da bedauerte ich doch sehr, kein anderer Ringelnatz zu sein, denn dem wären sicher zum Gummibaum die lustigsten Reime eingefallen.

Doch wenn dann – endlich, endlich – Strawinsky das Sagen hat, wird es richtig spannend. Dazu hat Händler einen kraftstrotzenden Überlebenskampf aller gegen alle choreografiert, da setzt es Hauen und Stechen, Biegen und Brechen, gehen die Tänzer mit Tigerkrallen aufeinander los und stürzen sich zähnefletschend in ihre Attacken. Dabei hält Händler die Metzelei strikt unter Kontrolle, flößt den Tänzern aber immer höheroktaniges Choreografiebenzin ein. Ganz schön atemberaubend. Wenn sie doch bloß auf ihre ständigen Gummibaum-Balgereien verzichteten!

Aber dieses ganze überflüssige Rahmenprogramm ist vollkommen vergessen, wenn sich in den Schlussmomenten der Boden blähend wölbt, wie unter einem grummelnden Erdbeben, und den letzten Überlebenden schließlich verschlingt. Das ist ein genialer – wirklich ein genialer bühnentechnischer Coup (doppelt so nach den genialen Häppchen am Abend zuvor in Leipzig). Großes Kompliment an Hannes Hartmann und die technische Crew des Theaters. Nein, man selbst kommt sich nicht als Opfer dieser fatalen Hinrichtung einer funktionierenden Ballettkompanie vor. Man hat überlebt – und wartet jetzt gespannt, wie sich denn wohl Stefan Thoss in einer fast identischen Situation mit „Sacre“ demnächst von seinen Hannoveranern verabschieden wird.

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