Statt Opfer eher Hommage an die Industrie-Messestadt

Stephan Thoss verabschiedet sich mit Strawinskys „Le Sacre du printemps“

oe
Hannover, 07/05/2006

Wie sich die Bilder gleichen – und doch auch wieder nicht! In Chemnitz und Hannover stehen zur nächsten Spielzeit Intendanten-Wechsel an. In Chemnitz hat der neue Mann den seit fünf Jahren durchaus erfolgreich dort arbeitenden Ballettchef Thorsten Händler mitsamt der kompletten Kompanie gefeuert. In Hannover hat Stephan Thoss, ebenfalls dort seit fünf Jahren tätig, von sich aus vor dem angekündigten künstlerischen Kurswechsel gekündigt, und mit ihm geht, so scheint es, ein Großteil der Tänzer.

Beide haben inzwischen ihre letzten Premieren am Ort herausgebracht, und beide haben sich für Strawinskys „Sacre du printemps“ entschieden. In Chemnitz (siehe kj vom 18. März) sieht sich Händler offenbar selbst als eine Art Opfer der Verhältnisse, und so hat er das Werk inszeniert: als Macht- und Ohnmachtsdemonstration einer mitleidlosen Gesellschaft, die zusieht, wie einer nach dem anderen zugrunde geht im Gerangel um das Statussymbol – einen Gummibaum! Ganz anders jetzt in Hannover, das der „Sacre“-Produktion eine Uraufführung vorausschickt: „Les Enfants terribles“, frei nach Jean Cocteau, zu Musik von Janáček und Gorecki, choreografiert von Yuki Mori, einem Ensemblemitglied des Hauses, für ein Tänzerquartett – eine harmlose Pläsanterie angesichts der mysteriösen, todbringenden Vorgänge um die „schrecklichen Kinder“.

Thoss, aus der Dresdner Palucca-Schule hervorgegangen und mit seinen 40 Jahren ein international gefragter Choreograf, hat sich gerade jüngst wieder gegen alle erzählerischen Ambitionen des Balletts ausgesprochen, und so hält er sich denn auch in seiner „Sacre“-Version keineswegs an die librettistische Vorlage und kümmert sich auch nicht im mindesten um die Opfer-Thematik des Werkes. So stilisiert er sich auch keineswegs zum Opfer der Hannoverschen Verhältnisse, sondern setzt ausschließlich auf die Energieströme und die Struktur der Musik, die, gespielt vom Staatsorchester unter der Leitung von Markus Frank, zwischen klirrender Kälte und brachialer Gewalt changiert. Selten noch hat man gerade die Struktur der Partitur so augenfällig gehört wie in Thossens choreografischer Umsetzung, und das gilt auch für ihre polyphonen Vernetzungen. So gelingen Thoss wuchtige Bilder, die er realisiert mit den Mitteln seiner den ganzen Körper (und besonders die Arme) mobilisierenden Tanzsprache.

Da er dem Publikum durchaus eigene Assoziationsräume zubilligt, lässt man seine eigene Fantasie spielen. Die meine wurde jedenfalls entscheidend geprägt durch die monumentale bewegliche Stahlkonstruktion des Bühnenbildes von Tina Kitzing, die man sich als Hebeplattform direkt von der Industriemesse ins Opernhaus transportiert vorstellen kann. Zumal da die Tänzer in ihren knapp sitzenden Unisex-Monturen von Katharina Meintke eher an Tanzarbeiter als an Ballerinen und Ballerini denken lassen. Das heißt nicht, dass sie hier als mechanische Roboter fungieren – ganz und gar nicht. Sie sind eher Geschöpfe, beseelt durch die Musik Strawinskys und die Imagination von Thoss. Keine Zelebranten eines Opferrituals, sondern Überbringer einer Abschieds-Hommage an die Industrie-Messestadt Hannover.

 

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