Komm großer schwarzer Vogel

Drei Uraufführungen von Douglas Lee, Marco Goecke und Marc Spradling

Stuttgart, 03/07/2006

Wäre der neue Haus-Choreograf Marco Goecke nicht, es würde gerade ziemlich langweilig zugehen beim Stuttgarter Ballett. So unspektakulär wie sie bisher verlief, endet die Spielzeit nun mit einem Abend aus drei Uraufführungen, dessen mattes Anfangs- und harmloses Schlussstück erste Zweifel am sonst so todsicheren, qualitätsbewussten Auge von Intendant Reid Anderson aufkommen lassen. Zumindest was seine Choreografenauswahl betrifft.

Douglas Lees erste Stücke hatten 1999 den schwarzen Humor der Briten und lagen exakt zwischen Groteske und Melancholie: das lakonische Debüt bei der Noverre-Gesellschaft, sein Spielbuden-Märchen „Curtain of Hands“. Danach aber ging der Choreograf und Erste Solist in sich – und dort blieb er. Seitdem variiert er ein- und dasselbe Ballett. „Viewing Room“ mag eine andere Inspiration haben als „Lachrymal“ oder „Aubade“, aber es sieht seinen Vorgängern zum Verwechseln ähnlich: die fahle Ausstattung, die gedrückte, ja autistische Stimmung. Douglas Lees Bewegungssprache ist noch introvertierter geworden – die Tänzer schrauben sich geradezu in sich selbst hinein, den Kopf fast immer zum Körper geneigt, die Arme wie lästige Anhängsel weggestreckt oder verquält über den Körper gekreuzt (mit Choreografen wie Lee und Christian Spuck droht die Kultur des Port de bras im Stuttgarter Ballett irgendwann verloren zu gehen – und das in der Kompanie Marcia Haydées mit ihren expressiven Armen).

Zwölf vereinzelte Wesen tanzen verkniffen vor sich hin, eine Beziehung oder auch nur die Andeutung eines Wunsches danach entsteht selbst in den Duos nicht. Ähnlich bezugslos reihen sich die Rhythmusschläge in Frank Hennes elektronischem Soundtrack aneinander, der kaum mehr ist als eine unterlegte Begleitmusik. Von Anfang an fühlt man sich so ausgeschlossen aus der Gedankenwelt des Choreografen, dass jegliches Interesse an seinem Stück schnell erlahmt.

Im Gegensatz zu solch hermetisch verschlossener Depression wirkt Marc Spradlings freier, offener Stil gleich viel angenehmer. Der Frankfurter Ballett-Professor, der letztes Jahr sein erstes Stück für die Stuttgarter Kompanie choreografierte, gibt in „The Shaking Tent“ den Tänzern reichlich Futter: Er lässt Alicia Amatriain ihre tollen Beine werfen und die fünf Männer athletisch auftrumpfen. Natürlich sehen diese exzellenten Virtuosen gut aus, wenn man sie das zeigen lässt, was ihnen liegt, und natürlich tanzt es sich zu den exotischen Xylophon-Klängen von Steve Reichs „Six Marimbas“ entspannt und locker (das Percussionensemble der Musikhochschule spielte live).

Aber Spradlings kühles und in viel zu viel Plastikfolie verpacktes Stück wirkt skizzenhaft, wie der erste Entwurf einer Etüde. Bei aller Liebe zu neuen Kreationen – das war wirklich keine Herausforderung für die Stuttgarter Tänzer. Bei aller Lust auf neue Kreationen: Sicher hätten Friedemann Vogel, Jason Reilly, Marijn Rademaker und die anderen Solisten von einem alten Forsythe- oder van-Manen-Stück aus dem weiten, leider völlig brach liegenden Repertoire des Stuttgarter Balletts mehr gehabt.

Györgi Ligetis „Poème Symphonique“ für 100 tickende Metronome, das bereits bei der Uraufführung 1963 einen Aufstand auflöste, lieferte in Stuttgart 1992 die Musik zu Marco Santis grellem Skandalstück „Valium“. Marco Goecke setzt nun das hundertfache Ticken zunächst als leises Hintergrundknistern ein und steigert die Lautstärke ganz langsam, mit beunruhigendem Effekt. Er schockiert nicht, er verunsichert: leise, rätselhaft, im unheimlichen Halbdunkel. Sein Ballett „Viciouswishes“ (übersetzt etwa „fiese Wünsche“) tanzt in der Schattenwelt zwischen Traum und Angst. Zum Ticken der Metronome kommen andere unerklärbare Geräusche – starker Donner, das Wolfsheulen und Stöhnen der Tänzer, ein Knallfrosch. Aus dem Nichts steigen geheimnisvolle Rauchzeichen auf und zaubern die Wolken eines nächtlichen Himmels auf die dunkle Bühne, ein großer schwarzer Federfächer moppt wie ein unheimliches Tier über den Boden, aus den vier Ecken der Bühne rollen merkwürdige kleine Menschen-Bulldozer. Schwarze Federn machen die Tänzer zu großen Trauervögeln oder werden wie Asche auf die Bühne gestreut – Traumbilder von surrealer Poesie, die auch den entfesselten Tänzern ganz neue Welten eröffnen.

Marco Goecke ist ein Lyriker, seine Ballette sind Gedichte aus mehrdeutigen Metaphern. Wo Douglas Lee und Marc Spradling ihre Bewegungen mit Brechtscher Nüchternheit und nach dem Motto „What you see is what you get“ aneinanderreihen, da kreiert er Assoziationswelten, und vielleicht muss man seine Stücke genau so oft anschauen, wie man ein Gedicht liest, bis man den ganzen Anspielungsreichtum erfasst. Noch immer scheint sein Bewegungsvokabular unerschöpflich – obwohl er seinem typischen, nervösen Stil treu bleibt, wird die Konzentration auf Arme, Hände und Rücken nie zum Manierismus, denn die Einschränkung ist eine freiwillige: Wenn er will, streut Goecke mühelos Sprünge, Hebungen oder einen grotesken Pas de deux ein. Seine Werke sind spannend, er überrascht und fesselt das Auge mit seinen Bilderrätseln und Doppeldeutigkeiten.

„Viciouswishes“ schließt mit einem Solo für den Corpstänzer Roland Havlica, der krampfhaft am gesamten Körper zittert und dazu über das ganze Gesicht strahlt – man weiß nicht, ob er in Extase schwebt oder ob seine Augen um Hilfe schreien. Auch wenn der Rest des Abends schnell vergessen ist – Reid Anderson hat eines der größten Choreografen-Talente seit langer Zeit fest nach Stuttgart geholt.

 

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