Auf dem Weg zu den Sternen

Der Wettbewerb des Corps de ballet der Pariser Oper

Paris, 26/12/2006

Der Weg nach oben im Ballett der Pariser Oper führt unvermeidlich über den „Concours“, das jährliche Tanzexamen. Dieser ermöglicht jedes Mal einigen wenigen Tänzern den Aufstieg innerhalb der strengen Hierarchie der Kompanie, die in aufsteigender Reihenfolge in die Ränge Quadrille, Coryphée, Sujet (Halbsolist), Premier Danseur (Solist) und Etoile (Erster Solist) eingeteilt ist. Abgesehen vom Titel der oder des Etoile, der ausschließlich durch Ernennung des Direktors der Oper auf Vorschlag der Ballettdirektorin zu erringen ist, werden alle anderen Ränge durch den Concours vergeben.

So finden sich jedes Jahr in der hektischen Zeit um Weihnachten fast alle Mitglieder des Corps de Ballet im Palais Garnier ein, um vor 10 Jurymitgliedern je eine Pflichtvariation und eine frei gewählte Variation des Repertoires zu präsentieren. Trotz der hohen psychologischen Belastung der Tänzer und der Verletzungsprobleme, die regelmäßig im Dezember entstehen, in dem zudem stets gleichzeitig zwei Ballette im Palais Garnier und in der Opéra Bastille aufgeführt werden – man könnte sich fragen, ob ein Verschieben des Concours auf einen anderen Zeitpunkt des Jahres nicht sinnvoller wäre – bietet der Wettbewerb mehrere Vorteile für die Kompanie. Erstens sorgt er für mehr Gerechtigkeit bei der Beförderung der Tänzer, da er „vergessenen“ Mitgliedern der Truppe die Möglichkeit bietet, sich der Jury und dem Publikum ins Gedächtnis zu rufen und durch eine außergewöhnliche Darbietung am Tag des Concours aufzusteigen. Zweitens sorgt er für ein hohes Niveau der Kompanie, da fast alle Mitglieder des Corps de Ballet jährlich eine der schwierigsten Variationen des Repertoires vorführen. Andererseits ist die Wahl der Pflichtvariationen vor allem für die niedrigeren Klassen der Hierarchie stets sehr technikorientiert, weshalb einigen künstlerisch interessanten Persönlichkeiten der Aufstieg in höhere Ränge verwehrt wird. Zudem scheint es nicht immer angemessen, über die Leistungen eines Tänzers angesichts zweier minutenlanger Variationen zu entscheiden. Um dieses Ungleichgewicht auszubalancieren, werden die Leistungen des Tänzers im Laufe des Jahres zu einem Drittel ins Ergebnis mit einbezogen. Zudem ermöglicht es der Concours allen Corpstänzern, einmal jährlich eine der großen Variationen des Repertoires einzustudieren und auf der Bühne des Palais Garnier vorzustellen, was die Direktion zuweilen zu künftigen Besetzungen inspiriert.

Wie bereits im letzten Jahr verteilte sich der Concours dieses Mal auf zwei Tage, was sich positiv auf die Aufmerksamkeit von Publikum und Jury auswirkte. Letztere bestand aus Operndirektor Gérard Mortier, Ballettdirektorin Brigitte Lefèvre, Ballettmeister Patrice Bart sowie den Tänzern Aurélie Dupont, Manuel Legris, Jean-Guillaume Bart, Stéphane Phavorin und Muriel Zusperreguy. Als externe Jurymitglieder waren Jean-Christophe Maillot, Choreograf und Direktor des Balletts von Monte Carlo, und Alexei Ratmanski, künstlerischer Leiter des Bolschoi Balletts, geladen. Wie sehr häufig wählte die Jury eine technisch besonders schwierige Pflichtvariation für die männlichen Quadrilles, wohingegen sie bei den Kandidaten für den Posten des Premier Danseur mehr Wert auf eine darstellerisch anspruchsvolle Variation legte. So kämpften die Quadrilles mit der zweiten Variation des Basilio aus dem ersten Akt von Nurejews „Don Quichotte“, und nur dem schließlich erstplatzierten Axel Ibot gelang es, diese nicht nur korrekt, sondern mit Bravour zu meistern. Auch in der freien Variation, für die er die Mazurka von Serge Lifars erst kürzlich im Palais Garnier aufgeführter „Suite en Blanc“ auswählte, dominierte er seine Klasse. Ein verdienter zweiter Platz ging an Daniel Stokes, der überzeugend die erste Variation des Nurejewschen Romeo interpretierte.

Die darauf folgende Klasse der männlichen Coryphées war von merklich höherem Niveau und enthüllte, obwohl nur zwei Tänzer in die Kategorie der Sujets aufsteigen konnten, einige interessante Persönlichkeiten – darunter vor allem Sébastien Bertaud, der nach einer nicht nur technisch, sondern auch schauspielerisch gelungenen Variation des Siegfried aus Nurejews „Schwanensee“ die Variation des Don José aus Roland Petits „Carmen“ mit einem Elan tanzte, der mehr an eine Vorstellung als an einen Wettbewerb denken ließ. Er wurde zwar nicht befördert, doch erhielt er einen dritten Platz, der auf einen baldigen Aufstieg hoffen lässt. Die ersten beiden Plätze gingen, ebenfalls sehr verdienterweise, an Mathias Heymann und Audric Bezard. Heymann, der einige Tage zuvor sein Rollendebüt im Bauern-Pas de Deux von „Giselle“ gab, überflog seine Klasse mit einer exzellenten Variation aus „Don Quichotte“, während der ebenfalls sehr talentierte Bezard nicht nur seine beeindruckende Technik, sondern überdies sein beachtliches komisches Talent in der Fernsehszene aus Mats Eks „Apartment“ zur Schau stellte – auch ihm gelang es, die Zuschauer aus der Examensatmosphäre zu reißen, und er sorgte für Gelächter im sonst stillen und gespannten Publikum. In der Klasse der Sujets konkurrierten neun Kandidaten um einen einzigen Posten des Premier Danseur. Die Variation des Armand Duval aus dem zweiten Akt von Neumeiers „Kameliendame“ eignete sich aufgrund ihrer starken Kontextgebundenheit nur bedingt dazu, die Talente der einzelnen Tänzer zur Geltung zu bringen, und so wandte sich die Aufmerksamkeit stärker der freien Variation zu. Doch auch in dieser gelang es keinem Tänzer, sich deutlich vor den anderen hervorzutun, wenn auch Stéphane Bullions dramatisch intensives Solo aus Paul Taylors „Speaking in Tongues“ und Simone Valastros stilsichere Variation aus Jerome Robbins „Dances at a Gathering“ besondere Erwähnung verdienen. Die Siegespalme errang schließlich Christophe Duquenne mit einer Variation aus Jerome Robbins „Other Dances“. Er war bereits in den Hauptrollen einiger Klassiker wie beispielsweise „Romeo und Julia“ oder „Dornröschen“ zu sehen und tanzt derzeit mit Erfolg den Franz in Patrice Barts „Coppélia“.

Am Tag danach konkurrierten die Frauen des Corps de Ballet um zwei Plätze als Coryphée und zwei Plätze als Sujet, wobei allerdings dieses Jahr kein Posten der Première Danseuse zu vergeben war. Unter den Quadrilles taten sich besonders die vielversprechenden jungen Talente Eléonore Guérineau und Aubane Philibert hervor, erstere mit einer Pflichtvariation aus dem Pas de Trois von „Schwanensee“ und der sehr schwierigen Serenade aus Lifars „Suite en blanc“, letztere mit einer noch etwas wackligen Variation des Frühlings aus Jerome Robbins „Four Seasons“. Sie fanden sich auf Platz drei und vier hinter Ludmilla Pagliero und Daphnée Gestin, die jeweils eine Variation aus Roland Petits „Notre Dame de Paris“ und aus „Suite en Blanc“ tanzten.

In der Klasse der weiblichen Coryphées sorgte Sarah Kora Dayanova für die Überraschung des Concours: nach einer Pflichtvariation aus „Paquita“ trat plötzlich magische Stille im Zuschauerraum ein, als sie ihre Variation des Schattens aus Lifars „Les Mirages“ begann. Alle Wettbewerbsstimmung verflüchtigte sich im Nu, und selbst ohne den Kontext des Ballettes glaubte man sich in einer Vorstellung von hohem artistischen Niveau. Dayanova enthüllte sich an diesem Tag als wahre Künstlerin, die über die Gabe verfügt, das Publikum nicht nur durch ihre Technik zu überzeigen, sondern auch zu bewegen. Sie wurde die Erstplatzierte, der zweite Posten als Sujet ging an Marie-Solène Boulet mit einer Variation aus Roland Petits „Carmen“. Man kann nur hoffen, dass die Persönlichkeiten, die dieser Concours enthüllt hat, im Laufe des nächsten Jahres im Rahmen der Kompanie Anwendung für ihre Talente finden werden.

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