„CURSIVE: A TRILOGY“ als Europäische Erstaufführung

Wolkentor-Tänzer verzaubern Berlin

Berlin, 31/05/2006

„Ein Kalligraf ist ein Tänzer. Er nutzt die Energie im leeren Raum. Eine gute Kalligrafie ist wie ein fliegender Drache oder wie ein tanzender Phönix“, so der Gründer, Leiter und Choreograf des Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan Lin Hwai-min. Drei abendfüllende Choreografien unter dem Titel „Cursive: A Trilogy“, Resultat einer künstlerischen Erkundung von hohem Rang entstanden 2001, 2003 und 2005, hat Asiens wichtigster Choreograf nun nach Berlin gebracht. In der einzigartigen Interpretation durch die Tänzerinnen und Tänzer seines Wolkentor-Ensembles wurden sie zum Tanzereignis, das die Zuschauer im Haus der Berliner Festspiele zu stehenden Ovationen für den Choreografen und seine Company hinriss. Diese taiwanesischen Tänzerinnen und Tänzer (allseitig ausgebildet in klassischem Ballett, Modern Dance, Kung-Fu, traditionellem Tanz der Peking Oper und Tai-Chi), beherrschen den großen Bühnenraum in körperlicher Präzision wie Entgrenzung. Wann hat man je ein Ensemble von diesem magischen Körperklang gesehen!

Die viertausendjährige Kunst der Kalligrafie (Schönschreiben mit schwarzer Tuschfarbe und breitem Pinsel) mit ihren Schattierungen und unendlichen Kombinationsmöglichkeiten an Schriftzeichen, die der persönlichen Handschrift und Interpretation des Schreibenden Ausdruck verleihen (das derzeitige Vokabular der chinesischen Wörterbücher umfasst 54000 Schriftzeichen!) inspirierte den Choreografen zu vielfältigsten Kombination energetisch unterschiedlicher Tanzfiguren in permanenter Veränderung. Jenseits des Narrativen verzaubern die schwarz gewandeten Tänzer wie Tintenschrift auf Reispapier den Blick des Betrachters in ihrem fließenden Auf und Nieder, Gegen- und Miteinander. „Welche Energie geben meine Tänzer an das Publikum weiter –nur davon wird ein Publikum berührt. Es geht nicht darum, was sie sehen, sondern wie sie es sehen“, betont der Choreograf. Lin Hwai-min (Jg. 1947, heute zugleich ein anerkannter Schriftsteller) kam mit einem Literaturstipendium nach New York, studierte bei Martha Graham und Merce Cunningham und gründete 1973 in Taipeh das erste zeitgenössische Tanztheater im chinesischen Sprachraum, dessen Name „Wolkentor“ auf das älteste chinesische Tanzritual Bezug nimmt.

Anfangs dominieren tiefschwarze Kalligrafien, die in die cremefarbenen Passepartouts auf den Bühnenboden, neben und hinter die Tänzer oder direkt auf ihre Körper projiziert werden. Im Zusammenklang mit der Auftrags-Komposition für Cello und Schlagwerk des Shanghaier Komponisten Qu Xiao-song entfalten sich hoch konzentrierte Gruppen- und Soloaktionen, deren ruhig fließende Bewegungsmuster von eruptiven Sequenzen durchsetzt sind. Tanzende Kalligrafen, die sich drehend und springend blitzschnell in den Raum bohren oder sich sehr langsam aus den Lichtquadraten aufeinander zu bewegen, bis ihre Körper sich mischen um im Auseinanderdriften neue Kraft- und Lichtfelder entstehen zu lassen. Solo- und Gruppenaktionen als sich fortschreibende, immer neue Amplituden von Spannungsaufbau und Entladung.

„Wild Cursive“, der ebenfalls 70-minütige dritte Teil, beginnt mit einem furiosen Septett im schwarzen Bühnenraum, das jäh abbricht und in ein meditatives Frauensolo übergeht. Meterdicke Reispapierbahnen rollen aus dem Bühnenhimmel, an- und abschwellende Windgeräusche mischen sich mit Wassertropfen, Zikadenzirpen und Schlagwerk. Die elf Tänzerinnen und zehn Tänzer komponieren in diesem von Jim Shum und Liang Chun-mei bis in die spannungsvollen Pausen hinein genau strukturierten Klangraum eine elfteilige Sinfonie divergierender Kräfte. Niemand ist der, der er auf den ersten Blick scheint. Frauen wiegen sich sanft als Schattenbilder, aus dem Schatten tretend, agieren sie kraftvoll. Ein eng voreinander stehendes Paar tritt aus der vermeintlichen Ruhe in einen explosiven Dialog, an dessen Ende beide im großen Abstand der Diagonale vor ihren Reispapierbahnen innehalten. Ein menschlicher Vulkan, der unter der stillen Oberfläche brodelt. Atemverschlagend, wie sich Lin Tzu-chun und Wen Ching-ching in rebellischen Frauen-Soli ihren Weg in den Raum freikämpfen, wie drei unterschiedliche Männer zu einem Körper verschmelzen, wie akrobatische Elemente zu skulpturaler Erstarrung gerinnen, aus der neue Bewegung entsteht. Im abschließenden Crescendo der Wellenbrandung schiebt sich ein Menschenstrom ganz langsam diagonal in die Szene, die Körper biegen sich, einige verharren plötzlich, breiten sich im Raum aus. Wie Wellen, die sich über Kieselsteinen brechen, gleiten alle langsam aus dem Bild. Stille. Eine Frau im knochenlosen Sinken. Schwarze Tusche verläuft auf einer Papierbahn …

Lin Hwai-mins einzigartiges Bewegungsepos (kongenial in Komposition und Ausstattung) verbindet Tradition und Moderne. „Cursive: A Trilogy“ feiert die Schönheit, deren Magie aus der Stille erwächst.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern