Wo die Choreografie zur Variation über die Musik wird

Kevin O'Day: „Goldberg-Variationen“

oe
Mannheim, 06/01/2005

Ist doch eine feine Sache, diese Rhein-Ballettschiene mit Schläpfer in Mainz, O‘Day (mit Dumais) in Mannheim und Keil in Karlsruhe – besonders, wenn man auch noch das linksrheinische Parallelgleis des Ballet du Rhin von Strasbourg, Colmar und Mulhouse dazu rechnet. Diese Vielfalt der kleinen, aber durchweg picobello und jedenfalls sehr individuellen Kompanien! Jetzt nach längerer Zeit mal wieder in Mannheim gewesen und erstaunt festgestellt, wie die Vierzehn-Tänzer-Truppe in zwei Jahren vorangekommen ist.

Die siebte Vorstellung der „Goldberg-Variationen“ von Kevin O‘Day im Schauspielhaus – und so restlos ausverkauft, dass sogar die Reservierung einer Pressekarte zunächst nicht möglich schien. Dann klappte es aber doch noch – und mein Ballett-Auftaktabend im neuen Jahr geriet überraschend vielversprechend. Nicht zuletzt deswegen, weil mich die vorherigen Begegnungen mit Balletten von O‘Day in Stuttgart und Mannheim ob ihrer Kingsize-Lärmattacken ziemlich genervt hatten. Hier nun also Bach pur – ohne allen elektronischen Schnickschnack. Der erste Teil mit den Variationen eins bis fünfzehn begleitet von einem in der Mitte der Bühne stehenden Flügel (gespielt von Nóra Emödy), der zweite sodann, die Variationen sechzehn bis dreißig nach der Pause, von zwei Flügeln, verteilt auf verschiedenen Bühnenebenen (zu Emödy gesellte sich Ahmed Abou-Zahra – beide zusammen bilden das Horus Piano Duo) – stilistisch weit entfernt von der maßstäblichen Glenn-Gould-Aufnahme.

Doch gibt es überhaupt einen verbindlichen Maßstab für die Interpretation dieses monumentalen Klavierwerkes? Bach selbst hat die einzelnen Variationen unterschiedlich a 1 Clav. und a 2 Clav. bezeichnet und ein zweimanualiges Cembalo im Sinn gehabt. Robbins, der 1971 als erster die „Goldberg-Variationen“ choreographiert hat, hat die Proben mit einem Cembalo begonnen, dann sich aber doch zur Klavierversion entschlossen, genau wie Spoerli 1993 in Düsseldorf. Die drei Ballettinterpretationen könnten indessen kaum unterschiedlicher ausgefallen sein. Die klassischste Version ist die von Robbins, der, nicht zuletzt durch die Kostümierung, ein paar historische Reminiszenzen ins Spiel bringt. Spoerli, für den die „Goldberg-Varationen“ sozusagen zum Firmenschild seines Repertoires in Düsseldorf und Zürich geworden sind, gibt seiner Produktion ausgesprochen sportiv-athletische Akzente – es ist die strukturklarste tänzerische Interpretation.

O´Day hingegen, der zusammen mit seinem Bühnenbildner Peter Puhl in seinen Anmerkungen über die Zen-Bezüge seiner Konzeption philosophiert (auf die ohne den Programmheft-Verweis wohl kaum jemand gekommen wäre), scheint von der „Gemütsergötzung“ des Titelauftrags ausgegangen zu sein. Zustande gekommen ist so eine lockere Folge von einzelnen, nahtlos ineinander übergehenden Variationen in unterschiedlichen Besetzungen, von sehr unterschiedlichem Charakter zwischen Meditation und übermütiger Ausgelassenheit (mit sehr willkommenen gelegentlichen humoristischen Eskapaden), durchaus virtuose Soli und dann wieder eng miteinander verknäulte kompakte Formationen, viele kontrapunktische Gruppenführungen. Das alles auf flacher Sohle und halber Spitze getanzt, zahlreiche Sprung- und Fangaktionen, klassisch grundiert, aber modernistisch verfremdet, sehr abwechslungsreich und phantasievoll arrangiert. Weniger ein Versuch, die Musik und ihre Strukturen in tänzerische Bewegung zu übersetzen, als sie tänzerisch zu paraphrasieren und zu ornamentieren. Quasi die Überführung von Bachs Variationsmuster in choreografische Variationen.

Das ist ausgesprochen spannend zu verfolgen und keine Sekunde langweilig, geschweige denn pedantisch als choreografische Verdoppelung der Musik. Die Choreografie gewinnt so eine beglückende tänzerische Leichtigkeit und Transparenz – und so wird sie auch von den Tänzern ausgeführt, mit Lust und Gutgelauntheit, trotz ihrer technischen Komplikationen. So ansteckend, dass ich die O‘Dayschen „Goldberg-Variationen“ am liebsten gleich noch einmal gesehen hätte, um den Geheimnissen ihres Herstellungsprozesses auf die Spuren zu kommen. Hier wird nicht Gold geschürft, sondern Gold getanzt!

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