Im Kraftwerk der Emotionen und Affekte

Heinz Spoerli choreografiert Gustav Mahlers Fünfte Sinfonie

oe
Zürich, 08/05/2005

Nach Münchens dreistem Nacht-und-Nebel-Titelklau („So nah so fern“) nun also Zürichs lange vorangekündigte Premiere mit „allem fern, allem nah“ – Heinz Spoerlis Ballettversion von Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie, ziemlich genau hundert Jahre nach ihrer Kölner Uraufführung. Hatte Mahler damals davon geträumt – O könnte ich meine Sinfonie fünfzig Jahre nach meinem Tode uraufführen –, so hätte er sich wohl auch in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, seine Fünfte jemals getanzt auf der Bühne zu erleben. Zumal er vom Vor-Diaghilew-Ballett seiner Zeit nicht viel hielt – auch wenn ihm unterstellt wird, einmal gesagt zu haben „Vom Tanz geht alle Musik aus“.

In Zürich nun also in Anlehnung an eine Hugo von Hoffmannsthalsche Gedichtzeile („allem nah, allem fern“) ein siebzigminütiges pausenloses, die drei Abteilungen in fünf Sätzen nahtlos aneinander anschließendes Ballett – ein tänzerischer Steinbruch der musikalischen Emotionen und Affekte sozusagen – ohne jegliche narrative oder anekdotische Ambition: die Musik bei sich selbst genommen. So nah, wie Mahler den chaotischen Zustand unserer Welt am Anfang des vorigen Jahrhunderts imaginiert hat – und wie ihm Vladimir Fedoseyev mit dem Opernorchester aus seiner reichen Mahler-Schostakowitsch-Nachfolgerfahrung klangplastische Gestalt leiht (mit zahllosen geradezu betörenden Bläsersoli).

Und so fern, wie Spoerli und sein Ausstatter Roland Aeschlimann ihn und die Musik auf der Hinterbühne platziert haben. Denn die stellt eine riesige, in den Orchestergraben abstürzende Rampe dar, über der ein gigantischer, diagonal aufgehängter Leinwandrhombus schwebt, auf den Gilles Papain seine musikalischen Phantasmagorien projiziert (Schlieren, Wolken, Strahlenbündel). Ein Nichts an Dekor also. Ein musikgezeugter offener Tanzraum. Die ganze, große Kompanie ist beteiligt, mit allen Solisten und Corpsmitgliedern: ein prächtiger Anblick, strotzend vor Jugendlichkeit, topfit, im farbigen Bühnenlicht von Christophe Mathis ein Fest der Ästhetik. Vom Publikum auch an den Satzeinschnitten mucksmäuschenstill atemlos verfolgt, am Schluss dann mit umso donnernderem Applaus belohnt.

Wie ein anderer Michelangelo meißelt Spoerli aus diesem musikalischen Marmorblock die Strukturen seiner Choreografie – mit michelangeloesker Zeigefingergebärde lässt er die Tänzer wiederholt in der Reihe an der Rampe aufmarschieren: dies ist die Welt, die ihr euch (die wir uns) erschaffen haben: ein Chaos der Kontraste! Die Männer kraftvoll die Marschrhythmen artikulierend – die Frauen, zunächst wie gefesselt, erst allmählich zu ihrer weiblichen Bestimmung findend, gelöster dann zu den nostalgischen Ländler- und Walzerfolgen. Nur ganz gelegentlich gönnt er sich ein erzählerisches Aperçu – etwa Dirk Segers‘ machohaftes Adonis-Bodybuilder-Posieren zu Beginn des Scherzos – wie dann im Adagietto, wo die drei Männer (Segers, Amilcar Moret Gonzalez und Jozef Varga) wie Archäologen die drei in endlose Chiffongewänder gebetteten Frauen (Sen Yun Kim, Evelyne Spagnol und Kusha Alexi) wie Mumien auswickeln, um sich dann in einem Pas de six mit ihnen zu vereinen.

Es wird viel geflogen, gesegelt und transportiert in diesem Ballett – immer im exakten Timing mit der Musik (und ganz ohne Gequassel). So reiht sich Episode an Episode, Block an Block, spaltet sich auf in Einzelaktionen, schichtet sich zu großen Ensembles, bis sich alle am Schluss des Rondo-Finales in einem großen Kreis zusammenschließen, der sich dann peu à peu auflöst und nur eine einzige Frauengestalt übriglässt, Sen Yun Kim, die mit einem Kuss erlöst wird. Die Hoffnung in dieser maroden Welt als eine Frau, die aus dem Fernen Osten kommt. Und was könnte Mahler-gemäßer sein (denken wir an sein „Lied von der Erde“!) An der Herausforderung Mahler ist der an Bach gereifte Spoerli über sich hinausgewachsen!

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