„Hamlet“

Ballett von Carlos Matos

Hildesheim, 21/02/2005

To choreograph or not to choreograph - das ist die Frage bei Shakespeares wortgewaltigem Drama Hamlet. Carlos Matos wagte es in Hildesheim mit seinem neunköpfigen Tanzensemble, knöpfte sich die verzwickte Titelfigur und das übrige Personal des tiefenpsychologisch angehauchten Dramas vor. In eineinhalb Stunden suchte er sich in die verzwickten Stoff hineinzuwühlen, zu einer geschickt ausgesuchten Musikabfolge von u.a. Arvo Pärt (darf heutzutage nicht fehlen), Fred Frith, Gavin Bryars, J.S.Bach (aus der sechsten Solosuite für Cello) - und dem Walkürenritt, im instrumental abgemagerten Arrangement von Uri Caine, der witzigsten Szene des Abends. Rosenkranz und Güldenstern - Nicole Baumann und Polina Ogryzkova en travesti - vollführen mit Hamlet eine niedliche Groteske. Ein wenig erinnert die Szene an Alberich und die Rheintöchter.

Auch ohne Kenntnis des Schauspiels erschließen sich die Spannungen zwischen den Personen, jedoch mehr wie in einem privaten Familienrahmen, aus der gewissermaßen der alltägliche Wahnsinn, die normale Verwirrung grinst. Zum tragischen Furor verdichtet Matos das Geschehen kaum je. Auch die eingestreuten Textzitate aus dem Drama, deutlich gesprochen von Godehart Giese, vertiefen die Szene nicht. Matos vertraut zu Beginn dem einfachen theatralischen Effekt: Zwei Hamlets, scheinbar aneinander gekoppelt wie siamesische Zwillinge, tauchen aus dem Halbdunkel auf, beginnen sich zu bewegen, synchron zuerst wie ein Körper mit zwei Köpfen, dann auseinanderstrebend bis zur Trennung. Die gänzlich unterschiedlichen Matt Batcheider (Hamlet 1) und André Mesquita (Hamlet 2) sollen die Facetten der Rolle verkörpern, die Idee ist klar, die Gestaltung bleibt choreographisch und inszenatorisch blass. Wie auch die Unterscheidung zwischen Polonius (Gabriel Wong) und Laertes (Armando Morais) ohne Kenntnis der Vorlage kaum gelingt.

In die Bühnentiefe gestaffelt erscheinen die übrigen Personen des Spiels auf einer Schräge, vorn unterteilt in einen Graben und ein abgesetztes Segment, auf der später Ophelia (anrührend: Wencke Kriemer) ein zartes Solo unschuldiger Erotik tanzt. Die Flächen sind beweglich (Ausstattung: Annett Hunger), können angehoben oder abgesenkt werden, ergeben so die unterschiedlichsten „Orte“: Bedrängt Hamlet seine Mutter Gertrude (Gaelle Morello) in eindeutig inzestuöser Gier, so geschieht dies in einer Grube, die vom Publikum nicht einzusehen ist, über Videokamera aber nach außen übertragen wird. Bis zum Äußersten geht Matos dabei nicht, er bleibt durchwegs dezent - etwas langweilig könnte man auch sagen.

Bei Ophelias Selbstmord bildet sich eine ansteigende Ebene, auf deren Rand sie nach oben trippelt, um sich nach hinten herunter fallen zu lassen. Über Videoeinspielung taucht sie spektakulär ins Wasser. Die weiteren Video Live-Aufnahmen wirken wie Fremdkörper, fügen dem Ablauf keine Spannungsmomente hinzu. Matos vermag intensiv zu gestalten, in einem modernem, allerdings oft wenig konturscharfen Idiom mit ausgiebiger Armgestik.

Das sexuelle Flirren zwischen Hamlets Onkel, König Claudius (Radim Peska) und Gertrude wird plastisch eingefangen, ihr Solo setzt noch einen drauf: Mit dem Rücken zu den Zuschauern bewegt sie ausgiebig ihr Hinterteil als erotisches Signal. Gaelle Morello setzt ihren Körper voll ein, meidet jedoch jede Peinlichkeit. Die Anziehung und Abstoßung zwischen Hamlet 2 und Ophelia gelingt mit einfachen Bewegungsmitteln, auch dank der konzentrierten Darstellung.

Ein Höhepunkt scheint mir der Kampf zwischen Laertes und Hamlet 2 zu sein. Hamlet wird gefesselt mit Klebeband, zu Boden geworfen, hin und her gezerrt: ein Bild der wütenden Verzweiflung - und eine Ahnung, wie der Abend hätte werden können bei mehr Mut zum Risiko, zur Hamletschen Grenzüberschreitung.

Dennoch bleibt die bemerkenswerte Leistung eines kleinen Theaters mit einem sehr engagierten Tanzensemble. Viel Applaus belohnte die 90-minütige Vorstellung.

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