Die legitimen Petipa-Erben

Balanchine, natürlich - und wer sonst? Grigorowitsch?

oe
Stuttgart, 16/09/2005

Die Wiederbegegnung mit der „Steinernen Blume“ auf DVD fordert dazu heraus, einmal über die Karrieren von George Balanchine und Juri Grigorowitsch nachzudenken. Beide entstammen bekanntlich der St. Petersburg-Leningrader Schultradition.

Balanchine, Jahrgang 1904, ist noch durchdrungen vom großen Petipa-Erbe, hat die Schule während der turbulenten Kriegsjahre und der Oktoberrevolution absolviert und als junger Tänzer (nie ein reiner Klassizist, sondern eher ein Demi-caractère-Typ) die ungeheuer kreativ-experimentelle Morgenröte des neuen Sowjetballetts mitbekommen, bevor er dann als Zwanzigjähriger in die Einflusssphäre Diaghilews und der westlichen Moderne geriet. Seinen entscheidenden künstlerischen Durchbruch hatte er 1928/29 mit Strawinskys „Apollon musagète“ und Prokofjews „Verlorenem Sohn“. Da war er also gerade fünfundzwanzig. Ein paar Jahre später nahm ihn dann Lincoln Kirstein unter seine Fittiche und holte ihn nach Amerika, wo er während der dreißiger Jahre zum Wegbereiter des amerikanischen Balletts wurde.

Grigorowitsch wurde 1927 in Leningrad geboren – gerade als die vitale Aufbruchsphase des neuen Sowjetballetts zu Ende ging und durch die rigorose Doktrin des sogenannten sozialistischen Realismus abgelöst wurde. Als Schüler der Waganowa-Akademie und junger Tänzer beim Kirow-Ballett wurde er mit der neuen Ideologie indoktriniert, die ja aber kurioserweise einen gewissen Freiraum für das Petipa-Erbe bereithielt (eins der erstaunlichsten Phänomene der sowjetischen Kulturgeschichte – und ein glänzender Beweis für die Zählebigkeit des klassisch-akademischen Tanzes wider alle seine Verleumder). Nach ein paar choreografischen Schularbeiten kam sein entscheidender künstlerischer Durchbruch 1957 mit Prokofjews „Steinerner Blume“ beim Kirow-Ballett, drei Jahre nach der missglückten Moskauer Uraufführung unter Sacharow.

Von da an zog seine Karriere steil in die Höhe. Es folgte sein Transfer zum Moskauer Bolschoi-Ballett, dessen Chef er 1974 wurde – eine Position, die er bis zum politischen Umsturz Anfang der neunziger Jahre behielt, während er ein stattliches Oeuvre neuer sowjetischer Ballette kreierte, die auch im Westen mit Respekt, wenn auch nicht mit sonderlichem Enthusiasmus aufgenommen wurden. So wurde er zum mächtigsten Ballettmann des gesamten Ostblocks – wie seinerzeit Petipa für Russland (mir, der ich ihm von den siebziger Jahren an verschiedentlich begegnet bin, aus eben diesen kulturpolitischen Gründen immer ausgesprochen suspekt – wie übrigens auch die von mir als Tänzerin sehr bewunderte Ulanowa). Heute ist er künstlerischer Leiter und Chefchoreograf des über hundert Tänzer starken Balletts von Krasnodar (das ist die Stadt, in der Tatjana und Victor Gsovsky ihre ersten Engagements hatten, und von wo aus sie in den Westen aufgebrochen sind).

Wie Grigorowitsch Petipa verinnerlicht hat, wurde mir jetzt schlagartig bei den klassischen Divertissements der im Übrigen ganz folkloristisch timbrierten „Steinernen Blume“ bewusst (beim Nachdenken hätte ich angesichts seiner zahlreichen Klassikerproduktionen – und besonders seit seiner „Raymonda“ auch schon eher darauf kommen können). Das mutet wie reiner Petipa an, so dass man das große Divertissement der Edelsteine im Innern des Kupferbergs sehr wohl gegen einen der Teile von Balanchines „Jewels“ (wenn auch nicht gerade gegen deren brillante „Rubies“) austauschen könnte.

Das veranlasst zu der Spekulation, was denn wohl aus Grigorowitsch geworden wäre, wenn er künstlerischen Mentoren vom Format Diaghilews und Kirsteins begegnet wäre – statt sich mit so bornierten Kulturfunktionären vom Schlage Schdanows und Genossen herumzuschlagen. Unter den gegebenen Verhältnissen hat Grigorowitsch auf seine Weise – und natürlich nicht ohne Kompromisse – einen erheblichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Sowjetballetts geleistet – ganz sicher im Sinne einer künstlerischen Verschlankung und damit der Vorbereitung für die heute einströmenden neuen Einflüsse der westlichen Moderne (wie sie zu Zeiten der Tschabukiani und Lapauri undenkbar gewesen wäre).

In der Tat kann man Grigorowitsch als Schöpfer eines genuinen russischen Klassizismus militair sehen (vielleicht sogar im Anschluss an die historischen Pferdeballette des Barock) – gipfelnd in seinem „Spartakus“ von 1968. Allerdings ist er uns die feminine Variante dieses Stils noch schuldig geblieben. Wie wär‘s denn mit einem Grigorowitsch-Abendfüller über Penthesilea?

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