Spielzeiteröffnung auf Kampnagel

„Cutting Flat“ von Abou Lagraa, Cie. La Baraka

Hamburg, 07/10/2005

Abou Lagraa ist „multikulti“, ohne den manchmal mitschwingenden negativen Beigeschmack, geht man von der unbefangenen Mischung der meist eigenständigen Bewegungsphantasie, der Auswahl der Musik - manchmal arabisch anmutend, komponiert von Eric Aldéa - in seinem Stück „Cutting Flat“ aus. Der 34-jährige Franzose, Sohn einer Ägypterin und eines Algeriers, gastiert auf Kampnagel mit dem Ensemble La Baraka, das er mit Aurélia Picot 1967 gründete. Sieben Mal wird „Cutting Flat“ aufgeführt bis zum 15.Oktober.

Über den Titel lässt es sich trefflich mutmaßen: „Zuschnitt einer Wohnung“ etwa, in dem Menschen versuchen, sich einzurichten. Kontakte, Kommunikation, Miteinander-Nebeneinander - auf der kahlen Bühnenfläche, nach hinten zum Teil abgegrenzt durch eine weiße Mauer, oben rechts hängen schräg Spiegelflächen, spielen sich kleine Dramen ab. Lagraa erweitert die Dimension der Aktionen durch eine rollbare Spiegelfläche, manchmal durchsichtig aufgehellt. Projektionen auf Wand und Bühnenfläche ergänzen das Geschehen ab und an. Heimelig wird der geometrisch kühle Ort zu keinem Moment.

Die einheitlich in schwarze Jacketts (mit rotem Innenfutter), Westen und Hosen (Kostüme: Michelle Amet) gekleideten neun Tänzer/innen, alle in Socken, sind durchweg präsent, technisch versiert, bestechen in den Gruppenszenen durch bewundernswert präzise synchrone Abläufe. Lagraas Stil fordert weich geführte Arme, bis in die Fingerspitzen geformt, ausgreifende, den ganzen Körper einbeziehende Agilität, flüssige Phrasierung auch bei komplexen Kombinationen. Taumeln, schwanken, rutschen, mörderisch auf die Knie krachend, dass einem beim Zusehen Angst und Bange wird, kraftvolle Biegungen, die im Aufrechten, hockend und am Boden dem Torso eine starke Dynamik verleihen. Schultern wirbeln, so dass die Jacken mit ihren roten Innenseiten wie Flügel abzuheben scheinen.

Trotz des hohen Tempos entwickelt sich keine Hektik, bleiben die Tänzer/innen gelassen. Den Raum teilt Lagraa sehr bewusst auf, stellt immer wieder kleine Gruppen in Spannung zueinander, löst auf zu einem Solo, zu Paaren, Dreiern. Kaum verwendet er Sprünge oder Hebungen. Ein Mann zelebriert auf einer breiten Lichtdiagonale seitlich-rücklings akrobatische Stürze, geschickt abgefangen durch Aufstützen mit der Hand und der Rundung des Körpers, der ihn in der Senkrechten zu zerreißen scheint. Zwei schlüpfen in dieselbe Jacke, bilden ein Zwitterwesen. „Eingeschlossen“ in einem kleinen Lichtviereck will eine Frau ausbrechen, vollführt aggressive Schlagbewegungen, während an anderer Stelle so etwas wie ein Swimming Pool als Projektion erscheint, in dem sich ein Männlein mit vier Weiblein vergnügen.

Schließlich vollführt ein Paar, beide bis auf Slip und BH ausgezogen, einen zu Herzen gehenden Liebestanz, wohl der Höhepunkt des Abends. Er hebt sie hoch, dreht sie in einer Abwärtsspirale aus der Hebung herunter auf den Boden. Dort exekutiert die Frau schwerelose Balanceakte auf den Knien des Mannes. Daraus entwickelt sich ein sehr erotischer Pas de deux, nie peinlich sexy, das Gefühl einer tief gehenden Zärtlichkeit schwingt immer mit.

Sehr sorgfältig setzt Lagraa Lichteinsätze (Licht Design: Franck Besson) als gliedernde Elemente ein. Ob die Projektion eines Auges auf die Bühnenfläche und die weiße Wand oder das Video (Charles Picq) eines erst lächelnden, dann lachenden Gesichtes - mehr als Nebenzutat wirkt es nicht.

Zum Finale haben sich alle vor der weißen Wand im Hintergrund versammelt, die Jacken und Westen sind abgelegt, die weißen Hemden ausgezogen, um die Hüfte geknotet. Jede(r) streichelt und umarmt jeden, legt ihm/ihr den Kopf auf die Schulter - süßlich sentimental, schwer zu ertragen, etwas gemildert durch eine Frau, die schließlich abseits ungestreichelt verharren muss.

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