Requisitenzauber und Folter-Sound

Julie Nioche und Christian Rizzo, die beiden DANCE-Gäste aus Frankreich, präsentieren sich selbstverloren und radikal.

München, 02/11/2004

Die Brust schmerzt, der Geist ist wachgerüttelt und die Gedanken suchen nach dem Warum?. Wo liegt der Grund dafür begraben, dass im zeitgenössischen Tanz soviel Wert und Aufwand in die Aussagekraft von Kürzeln gelegt wird? Gegenstände, symbolhaft vorgeführt, sollen als Teile eines Ganzen komplexe Inhalte vermitteln. Frauenkörper – nackt auf eine weiße Bühnenfläche drapiert –, stellen ihre autistische Persönlichkeit quasi wie eine zweite Haut zur Schau, indem sie verhalten bis lasziv posierend Symbiosen mit wohlgerundeten Glanzplastikkorsagen, falschen Gipsstiefeln oder Shirts mit aufgedruckten Motiven der innermenschlichen Anatomie eingehen. Was Julie Nioche von der Pariser Forschungs- und Produktionsgruppe L'Association Fin novembre im i-camp/Neues Theater damit bezweckt, ist die Demonstration von Körperformen in ihrer gesellschaftlichen, physischen und psychischen Funktion bzw. Deformation. Keine Frage, das wird auch verstanden.

Doch von einer theatralen Auseinandersetzung mit Problemthemen wie dem Kult um den eigenen Body kann man mehr erwarten als bloße Exposition. Nioche, Absolventin des Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse mit Tanzerfahrungen unter Meg Stuart, Alain Buffard, Emmanuelle Huynh und Jennifer Lacey, verzichtet auf Sprache und verweigert sich weitgehend auch dem Medium Tanz. Für ihre gemeinsam mit Barbara Manzetti und der vorwiegend im Hintergrund agierenden Musikerin Alice Daquet entwickelte Arbeit XX „with Alice“ hat sie bewusst das Konzept einer performativen Installation gewählt: ein fest umrissener Raum, der an ein Labor erinnert. Das grellgelbe Licht erlaubt keinerlei Heimlichkeit. Weit entfernt davon, sich zu beschweren oder Unruhe heraufzubeschwören, retten die drei Frauen sich in Verfremdungen. Nur kurz, solange ihr Aktionsbereich in violett-rotes Licht getaucht wird, wirken sie wahrhaftig, scheinen verträumt und verletzlich. Und ihr kindlich-barbiehaftes Stöhnen hallt noch lange nach.

Weitaus diabolischer wirft sich ihr Kollege Christian Rizzo von der L’Association fragile in Szene: Bei seinem nunmehr zweiten Gastspiel im Rahmen von DANCE zieht er in der Muffathalle eine Soloshow ab, dass die Stühle wackeln und riskiert dabei sogar den Achtungsapplaus. Auf eine Kunstsparte festlegen lässt er sich nicht. Magier, der er ist, schöpft er gleichermaßen aus den Pfründen der Bildenden Kunst, des Modedesigns und der Rockmusik. Und schafft es, mit „Autant vouloir le bleu du ciel et m’en aller sur un âne“ (Ich könnte genauso gut das Blaue vom Himmel holen und auf einem Esel davon reiten) dank stringenter Dramaturgie und blendender Körperpräsenz ein Gesamtkunstwerk zu inszenieren, das den Betrachter einerseits empfänglich für Assoziationen macht, andererseits aber – wie der Titel des Stücks impliziert – vor den Kopf stößt.

Zwei Räume – der eine quadratisch, nüchtern und leer, der andere dominiert von hölzernen Stellwänden und einem Leuchtpult – sind seine Aktionsfelder. Hier hantiert Christian Rizzo bedeutungsschwer und elektronisch verstärkt mit allerlei Kleinkram, den er aus einem roten Metallkasten holt. Kügelchen knallen aneinander, Münzen schrabben über den Tisch, rote Perlchen rieseln herab und die schwarzgrünen Glitter-Pailletten schmiert Rizzo sich ins Gesicht. Dazwischen weicht er aus, räkelt sich reptiliengleich im Nebenzimmer oder kriecht halb entblößt mit einem Fuchspelz über den Boden und betrachtet anschließend das entkörperte Tier, wie es in der Luft hängend alle Viere nach unten baumeln lässt. Entscheidend mitbestimmt wird das bisweilen surreal anmutende Spiel von den Lichteinstellungen Caty Olives und den elektronischen Klangbauten von Gerome Nox. Als Christian Rizzo sich eine schwarze Negerperücke aufsetzt und beginnt, Löcher in das mit einer roten Decke und einem schwarzen Nylonstrumpf umwickelte Bein zu schneiden, verlassen die Ersten entrüstet den Zuschauerraum. Es ist der poetischste und zugleich einer der nachdrücklichsten Momente des Abends, obgleich sich die dazu aushallenden Frauenschreie bald als Vorboten einer schier unerträglichen Lärmhölle erweisen. Eben noch eine weiße Papierblume im Mund balancierend, peitscht sich dieser Hexenmeister der Geräusche im anschwellenden Geisterbahngetöse in gogo-artige Ekstase. Sein zur infernalen Silhouette mutierter Körper schwingt zum immer heftigeren Sprechgesang, biegt sich unter dem Ansturm der Basswellen. Minuten vergehen, bis der Spuk sein Ende findet und Rizzi, fast meditativ versonnen, dem ausklirrenden Getöse wenige leise Töne aus einem Minikeybord entgegensetzt. Schwer zu ertragen, aber überzeugend...

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