Leiden und Größe

John Neumeier: „Tod in Venedig“

oe
Baden-Baden, 05/11/2004

Vielleicht wäre ja doch „Leiden und Größe“ der bessere Titel gewesen. Ebenfalls von Thomas Mann – aber doch nicht ganz so nahe dran wie „Tod in Venedig“, und John Neumeier so einen breiteren Spielraum schaffend für sein Ballett, das er einen „Totentanz“ nennt – und das ich nach dem jetzigen Wiedersehen eher als einen „Choreografischen Roman frei nach Thomas Mann“ klassifizieren würde. Vor knapp einem Jahr zuerst in Baden-Baden präsentiert (siehe koeglerjournal vom 28.11.2003), kehrte es jetzt während der herbstlichen Residenz des Hamburg Balletts in die Bäderstadt an der Oos zurück – zur Fernsehaufzeichnung und für eine Vorstellung, mit der die Kompanie ihre zweiwöchige Stagione beendete (nach den vorausgegangenen Abenden mit den „Préludes CV“ und der „Kameliendame“). Und schon zeichnet sich die nächste Rückkehr der Hamburger nach Baden-Baden ab – mit der „Matthäus-Passion“ zu Ostern, in der Neumeier zum letzten Mal in der Jesus-Rolle auftreten will. Eine höchst erfreuliche, kontinuierliche Zusammenarbeit, wie sie absolut einmalig auf der deutschen Szene ist – und auf die sowohl Baden-Baden wie auch Hamburg mit Recht stolz sein können.

Das Wiedersehen machte deutlich, wie intensiv Neumeier an dem Ballett und mit den Tänzern weitergearbeitet hat. Es hat inzwischen eine Größe und Dignität, aber auch eine strukturelle Verdichtung und Charakterschärfe gewonnen, wie sie der getanzte „Tod in Venedig“ anfangs noch nicht besaß. Auch die Verschränkung der komplexen Handlungsstränge erscheint jetzt einleuchtender und besser durchschaubar – die beiden Ebenen von Friedrich dem Großen und dem Künstlerschöpfer Aschenbach. Enorm hinzugewonnen haben auch die Tänzer in ihren Rollen: Laura Cazzaniga als Aschenbachs Assistentin, seine und Tadzios Mutter, Ivan Urban als Friedrich der Große, Silvia Azzoni und Alexandre Riabko als seine Konzepte (die platonische Idee des Pas de deux) und die beiden Bubeníčesk als das irrlichternde Zwillingspaar – und all die Individualgestalten in den Gesellschaftsszenen.

In der Titelrolle ist Lloyd Riggins kolossal gereift. Er wird zu einer großen Leidensfigur (die eben deswegen auch den anderen Titel rechtfertigte) – reißt das ganze Ballett in seiner Sterbeszene in eine andere, tragische Dimension – die es in seiner beabsichtigten Kühle und Distanz bis dahin vermissen ließ. Aber vielleicht ist diese Kühle und Distanz ja auch Neumeiers eigenster choreografischer Reflex auf den Stil von Thomas Mann, der auch erklärt, warum das Ballett im Gegensatz etwa zu Neumeiers „Nijinsky“ und der „Möwe“ – ganz zu schweigen von der „Kameliendame“ – menschlich so wenig berührt.

Viel wäre zu sagen zu dem breiten choreografischen Spektrum, das dieses Ballett bietet (nicht befreunden kann ich mich nach wie vor mit den erotischen Eskapaden des Bacchanale-Wunschtraums – auch nervt mich das ewige Ballgespiele im zweiten Teil). Ich bin allerdings nach wie vor der Meinung, dass Neumeier mit der Besetzung des Tadzio einen irreparablen Fehler begangen hat. Es geht bei Thomas Mann und in seiner Novelle primär um die absolute Schönheit. Die aber kann ich bei Edvin Revazov partout nicht entdecken – der mag durch seine Jugend, seine Spontaneität und seine Unbekümmertheit für sich einnehmen, ein langer Lulatsch, so ungeschlacht und primitiv und so gänzlich ohne sinnliche Verführungskraft, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, wie ein künstlerisch so hochsensibler Mann wie Aschenbach sich in eine derartige Abhängigkeit zu einem solchen Klotz von Burschen verstricken kann. Zumal der einen so fabelhaften Freund neben sich hat: Arsen Megrabian, der in seiner animalischen Grazie, mit seiner eleganten Linie und seinem unwiderstehlichen Charme über all das verfügt, was Revazov vermissen lässt. Es ist mir schleierhaft, warum Neumeier an dieser aus meiner Sicht absoluten Fehlbesetzung festhält. Auch einen Peter Dingle könnte ich mir durchaus als Tadzio vorstellen.

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