Es war einmal...

Ein Märchenballett von Stephan Thoss

Hannover, 23/10/2004

Wenn die Böse Fee dem Dornröschen in Slapstickmanier den Spindelstich verabreicht, das sexy aufgemachte Rotkäppchen mit dem schwarzen Punk-Wolf flirtet, die Prinzessin den auf schwul getrimmten Frosch küsst – dann hat Stephan Thoss zugeschlagen. Der Hannoveraner Ballettchef treibt in seiner neuen Produktion „Es war einmal...“ das Ensemble durch eine zweistündige tour de force, das einem schnell die Augen übergehen, man sich bald nach einer Zäsur, einer Generalpause auf der Bühne sehnt. Bewundernswert, wie seine Tänzer/innen die nicht abreißende Folge der eckigen Posen, zuckenden Schultern, schwingenden Hüften, der erst weit ausgreifenden, dann angewinkelt sich verkreuzenden und wieder lösenden Arme, der kreisenden Beinschwünge, Sprünge, Drehungen, Bodenpositionen mit leidenschaftlichem Furor bewältigen. Thoss vermag offensichtlich das Letzte aus seinen Leuten herauszuholen.

Fast das ganze Personal der Grimmschen Märchen fährt er im ersten Abschnitt auf: von Hänsel, Gretel, der Hexe bis zu Aschenputtel und tapferem Schneiderlein. Keiner Figur lässt er die märchenhafte Aura, jeder verpasst er einen Karikaturenschnitt, unterstrichen durch die schrillen Kostüme (Carmen Maria Salomon), die teils betont sexualisieren. Nichts bleibt kindlich, vieles mutiert zu kindischer Albernheit. Thoss stellt einen Mann (Zoran Markovic, solide, aber blass im Ausdruck) ins Geschehen, der im ersten Teil in die Märchenwelt seiner Kindheit eintauchen will, im zweiten Teil sich mit Assoziationen daraus, mit Erinnerungen, Begehren, Abschied, dem Unterwegs herumschlägt. Im Begehren (sehr intensiv: Lee Korljan, Thomas Wilhelm) gestattet sich Thoss einige verhaltene Momente, in denen so etwas wie tieferes Gefühl aufscheint. Auch im Auftritt der acht Frauen (Prinzessinen) gelingen ihm faszinierende Augenblicke – Oasen in der Wüste der endlosen, leer laufenden Rasanz.

Dafür hat ihm Till Kuhners Bühnenbild viel Raum gelassen. Im ersten Bild verteilen sich auf der Bühne Frau Holles überlanger Brunnen, goldner Riesenfrosch, Schlossportal, gestrandeter Fisch und eine Krone – wie ein kleines Kind die Dinge, Tiere sehen würde. Im zweiten ist die Fläche leer geräumt, fahle Grautöne beherrschen die surreale Szene, deren Atmosphäre Thoss weitgehend ignoriert, sein Bewegungsmaterial unterscheidet sich darin kaum vom dem der Märchenschau in der vorhergehenden Abendhälfte. Wie in „Giselle“ oder „Schwanensee“ lässt Thoss manisch beinah jede Sekunde vertanzen und versäumt darüber, eine Choreografie zu schaffen. Eine Weiterentwicklung gegenüber Kiel kann ich bei dem zweifellos Begabten nicht entdecken. Hören lässt sich der Abend: Markus Frank führt das Staatsorchester zu einer prallen Interpretation von Jacques Offenbachs Ballettmusik „Papillon“, kitzelt die raffiniert gesetzten Farben aus dem Klavierkonzert (Solo: Max Vax) und der 2. Sinfonie des estnischen Komponisten Leo Sumera (1950-2000), der sich irgendwo zwischen Spätromantik und Minimalmusic ansiedeln lässt: durchaus eine lohnende Entdeckung, wie auch sein Klavierstück 1981 und das Duostück „Quasi Improvisata“ zeigen.

Premiere: 21.10.04

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