Erlebnisparcour der kleinen Sünden

Im Rahmen der Reihe Ballettlabor kooperiert Anthony Rizzi in seiner DANCE-Neuproduktion „Just Die“ mit Tänzern des Bayerischen Staatsballetts

München, 02/11/2004

Er hat einen Narren an München gefressen. Strahlend und vor Energie nur so strotzend begrüßt Anthony Rizzi denn auch sein Publikum in der Eingangshalle der Galerie der Künstler im typisch bayerischen Lederhosen-Outfit. Vom ersten Augenblick an ist klar: Der aus Massachusettes (USA) stammende ehemalige Forsythe-Tänzer, Choreograph und Visual Artist ist ein begnadeter Performer mit ausgeprägtem Sinn für schwarzen Humor: Im Fall eines Feuers darf ums Leben gerannt werden, allerdings erst nachdem die Tänzer alle Requisiten aus dem Weg geräumt haben. Kurz darauf klagt die ihm zur Seite stehende bildhübsche Blondine auf einer Videoeinspielung über ihre schlechten Beine, deretwegen sie im folgenden Stück nur Assistentin sein kann, obwohl sie doch viel lieber tanzen würde. Die Qual der Auswahl bei der Besetzung blieb Rizzi offensichtlich erspart, denn – so erfahren wir weiter aus dem stakkatoartig geschnittenen Film – das Gros des Bayerischen Staatsballetts hat aufgrund der Dornröschen-Vorstellungen einfach keine Zeit für ihn und seine Experimente.

Einem Reiseführer gleich dirigiert Rizzi den Pulk der Zuschauer einen Raum weiter, wo ein Ausschnitt des aktuellen Münchner Dornröschen-Balletts über eine Riesenleinwand flimmert. Davor gibt der junge Martin Blahuta live seinen Part in der Gruppenszene zum Besten: schöne Posen, die ohne die Partnerin eher selbstverliebt und nichtig wirken. Come and perform! schreit Rizzi seinen Tänzern zu, die, hinter Kostümen an die Wand gepinnt, seiner Aufforderung mehr widerwillig als begeistert nachkommen. Nach dem Vorspiel also kommt die Performance allmählich in die Gänge, ohne jedoch den Flair einer Bastelarbeit abzustreifen. Die Seiten des Galerietrakts, vollgestellt mit Utensilien, Kerzenleuchtern und Lampen aller Art, dienen als offene Kulisse. Illusionen gibt es nicht, es sei denn in den Köpfen der Menschen. Mit Inma Rubio Tomas und Tamas Moricz aus Frankfurt sowie Valentina Divina vom Staatsballett im Quintet, frönt jeder für kurze Zeit seinem eigenen Bewegungsdrang, bevor er zu Boden geht. An dieser Stelle bringt Anthony Rizzi die Charaktertänzerin Irene Steinbeißer ins Spiel. Mit einer Stimme, so sonor und bayerisch im Akzent, dass sie Valentins Liesl Karlstadt alle Ehre macht, fragt sie nach der Ursache, warum denn alle da so rumliegen: „Ist Tanzen denn so anstrengend?“

Was danach passiert ist eine Abfolge von Szenen, die amüsant provozieren und sexuelle Orientierungen ebenso auf's Korn nehmen wie Schönheitschirurgie, Modedefilees oder Gefühlswandlungen im menschlichen Alltag. Sex, Crime und das Ende der tagtäglichen Monotonie (nette Idee: der stumme Trialog dreier gelangweilter Frauen beim Bügeln via bedruckter T-Shirts) sind das Motto einer mittels Film, gefilmter Polaroidfotos, Songs und ins Mikrofon geraunzter Worte propagierten Wahrheit, die sich manchmal eben auch als Schwindel entpuppen kann. Rizzi, unauffällig schnell hin und her switchend zwischen seiner Rolle als Kommentator, Ansager im lila Abendfummel, Tänzer oder lichtverändernder Stimmungsfänger, reizt dabei die Möglichkeiten des Raumes ebenso aus wie das Talent seiner Mitdarsteller. Nur die Zeit, die vergisst er dabei leider ein bisschen. Trotzdem folgt man ihm gerne noch ein weiteres Mal bis in die im Dreieck angeordneten Hinterräume der Galerie. Und wird belohnt mit einem sich stetig steigernden Pas de deux Forsythe′scher Ausmaße. Kein buntes Brimborium mehr, kaum Musik. Clou der finalen Choreografie zwischen Anthony Rizzi und Valentina Divina ist ihr spiegelbildlicher Aufbau, der quasi thematisch die Diagonale des Raums mit seinen zwei gegenüberliegenden Türöffnungen aufgreift. Womit dem findigen Raumkünstler nach einem gesellschaftskritischen Marathon der Details zu guter Letzt die Konzentration auf das Wesentliche gelingt: Tanz pur, koordiniert durch das impulsgebende Atmen der beiden Partner.

Kommentare

Noch keine Beiträge