Pierre Wyss: „und ich sah ...“

Tanzstück nach den apokalyptischen Texten der Offenbarung des Johannes

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Karlsruhe, 18/01/2003

Endzeitstimmung beim Ballett des Badischen Staatstheaters Karlsruhe. Enormes hat sich Pierre Wyss für seine letzte Spielzeit vorgenommen: den Zusammenbruch der religiösen, moralischen, rechtlichen und politischen Ordnungen nach der Apokalypse des Johannes. Eine dreistündige Bilderflut stürmt auf das Publikum ein – im ersten Teil zu Beethovens neunter Sinfonie – im zweiten dann zu einer Musikcollage, arrangiert aus Gavin Bryyars, John Cage, Joseph Haydn, Arvo Pärt, Alfed Schnittke und Wojciech Kilar (alles vom Band). Dazu gibt es Texte nach dem letzten Buch der Bibel, gesprochen, getanzt.

Das Ballett des Staatstheaters im Großeinsatz plus Statisterie plus Kinder der örtlichen Ballettschule plus StipendiatInnen der Akademie des Tanzes Mannheim, eine Handvoll Solisten (Der Mann: Luca Martini, Die Frau: Elena Schneider, Die Taube: Ilaria Masini, Zeit/Tod: Eri Iwasaki, Zeit/Raum: Luches J. Huddleston, Zeit/Licht: Martina Roth, Schwarzer Engel/Bischof: Ching-Yi Ping), dazu sieben Engel. Die große Bühne von Johannes Conen wird im ersten Teil von einer Rampe beherrscht, im zweiten Teil kommen dann ein großes Rad und der Buchstabe A ins Spiel: Alpha und Omega, der Anfang und das Ende, dazu Schilder, die die zehn Gebote signalisieren – überblendet von apokalyptischen Video-Projektionen.

Groß ist das Rätselraten, was das alles zu bedeuten hat. Im Programmheft lesen wir, dass neben der Vernichtung der Menschheit auch der Aspekt der Humanität im Vordergrund steht, der unabhängig von Religionen und Nationalitäten angestrebt wird – als Utopie. Die erfüllt sich offenbar in einem großen Pas de deux für Masini und Martini – sonst überwiegen bei weitem die kompakten Gruppenformationen, die Wyss sich in immer neuen Strukturen kristallisieren lässt. Der architektonische Aufriss der Choreografie ist imponierend, ihre Ausführung zeugt von dem entschlossenen Überlebenswillen der Tänzer in ihrer bedrohten existenziellen Situation.

Wucht und Emphase charakterisieren die dynamischen Motionen, die förmlich in den Raum explodieren. Das Ganze: die Vision der Weltenrätsel, die die Menschheit seit ihrem Urbeginn bewegen – und wohl so lange bewegen werden, wie es Menschen auf dieser Erde gibt. Wyss‘ Enigma-Variationen. Das Publikum; mucksmäuschenstill, um schon zur Pause und dann am Schluss in tosenden Beifall auszubrechen – als wenn alle ein schlechtes Gewissen hätten, Wyss während seines kurzen Engagements in Karlsruhe die Gefolgschaft versagt zu haben. Ob sie denn auch zu den Wiederholungsvorstellungen kommen werden? Und was will Birgit Keil als designierte Karlsruher Ballettchefin dem von der nächsten Spielzeit an entgegensetzen?

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