Jean-Christophe Blavier; „Nussknacker“

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Stuttgart, 12/12/2003

Vor rund 35 Jahren hatte John Cranko bei der letzten Stuttgarter Eigenproduktion des „Nussknacker“ Tschaikowskys Weihnachts-Quotenknüller kurzentschlossen zu einem Ballett für alle Jahreszeiten umfunktioniert, indem er auf jeglichen Weihnachtszauber (inklusive Tannenbaum) verzichtete und eine neue Handlung erfand, in der es um eine Geburtstagsfete für Fritz (Egon Madsen) und seine Teenager-Freunde ging (mit einem, wenn ich mich recht erinnere, merveilleusen klassischen Pas de six, der ausgesprochenes Balanchine-Format hatte).

Für Weihnachten 2003 hatte uns jetzt Jean-Christophe Blavier im Stuttgarter Theaterhaus den „Nussknacker“ als ein Multi Media Ballett Spektakel des 21. Jahrhunderts versprochen. Doch was an diesem Abend vor dem voll besetzten Großen Saal in Szene ging, erfüllte den Anspruch der Neuproduktion nur ansatzweise. Dabei konnte man sich gut vorstellen, wie die Öffnung in die Multimedia-Dimension dem „Nussknacker“ eine moderne E.T.A. Hoffmann Phantastik zurückgewonnen hätte, die das Märchenballett aus seiner bürgerlichen Fin-de-siècle-Gemütlichkeit erlöst und ein Science-Fiction-Abenteuer daraus gemacht hätte. Doch dazu steuerten die Video-Clips von Lorenzo Taverna – florale Muster, Tannenzweigdekor und viel verwischte Bilder – viel zu wenig an unheimlichem Verfremdungsambiente bei. Und der von Drosselmayer als Präsent für Klara mitgebrachte Nussknacker erschien so putzig wie ein an den Schulranzen zu haftendes Bärchen.

So erinnerte das ganze Unternehmen eher an eine Schulmatinee, und die anwesenden Pädagoginnen und Pädagogen aus den Stuttgarter Ballettschulen, von der John Cranko Akademie ganz zu schweigen, dürften die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben, wie wenig Blavier aus den mit viel Spaß an den diversen Ringelreihen beteiligten Kindern herauszuholen imstande war. Im Grunde war dies eine bieder konventionelle Stadttheater-Produktion – bloß, dass sich heutzutage kein Stadttheater zwischen Flensburg und Passau mehr einen solchen Routine-„Nussknacker“ leisten würde. Kaum gingen Blaviers klassische Schrittarrangements über die Kompetenz von Studio-Exercises hinaus. Das war gewiss hübsch anzusehen in den einfachen, aber nicht uneleganten Dekors von Michael Zimmermann und den Kostümen von Chiara Tanesini (mit allerdings sehr unvorteilhaften Büstenhaltern für die Männer), mit fantasievollen Kopfputz-Kreationen für die Mäuse, blieb aber inszenatorisch allzu unbedarft.

Nichts da von der Entwicklung eines noch sehr kindlichen Mädchens durch seine Traumerlebnisse zu einem frisch-fröhlichen Backfisch. Da konnte sich Maria Guiterrez, die wie ihre solistischen Kollegen vom Ballet du Capitole de Toulouse importiert war, tänzerisch noch so anstrengen, ihrer Rolle persönliche Züge abzugewinnen, das war ihr bei dieser Klischee-Choreografie ebenso wenig möglich wie dem Prinzenpaar von Roser Munoz (noch gut in Erinnerung von ihrem Leipziger Engagement bei Uwe Scholz) und dem attraktiven Vincent Gros, der wenigstens mit einem spektakulären Lift seine handwerklich-technische Kompetenz bewies. Verständlich, dass die beiden Kinderakrobatinnen mit ihrer gymnastischen Artistik den meisten Beifall einheimsten.

Dass mehr in Blavier steckt, bewies er mit der choreografischen Zeichnung von Drosselmayer und dem Nussknacker. So war Luca Masala (Ex-Bayerisches Staatsballett) in der Rolle des sonst meist altväterlichen Patenonkels ein dämonisch faszinierender Magier und der Vietnamese Minh Pham ein so fabelhaft hölzern-sperriger Nussknacker, dass man ihm sehr wohl auch Bartóks Hölzernen Prinzen oder Strawinskys Petruschka zugetraut hätte. Insgesamt erschien der neue Stuttgarter „Nussknacker“ – seine Wohltätigkeits-Kollaboration mit der Aktion Herzenssache für kranke und behinderte Kinder unbeschadet – für eine Ballettstadt wie Stuttgart freilich um ein paar Nummern zu klein!

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