„Romeo und Julia“ vom Litauischen Nationalballett

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Ludwigsburg, 23/07/2002

Verkehrte (Ballett-)Welt! In der Mitte der Bühne des Ludwigsburger Forum-Theaters sitzt die Litauische Nationalphilharmonie mit ihrem uns en face zugewandten Dirigenten, dem gerade 75 Jahre alt gewordenen Mstislaw Rostropowitsch, unter dessen Zauberhänden Prokofjews Musik ertönt, wie wir sie nie zuvor vernommen haben: ein aus Zärtlichkeit und Pianissimokultur beschworener erotischer Kosmos der Klänge.

Drum herum, auf der Vorderbühne und hinter dem Orchester auf einem Podest, die beiden verbunden durch seitwärtige Treppen und Gänge, illustriert das Litauische Nationalballett diese Klänge mittels der Dramaturgie, Inszenierung und Choreografie, wie sie sich Wladimir Wassiljew ausgedacht hat. Der war einer der großen Startänzer des Moskauer Bolschoi-Balletts (dem ich die elektrisierendste Ballettvorstellung meines Lebens verdanke: beim Gastspiel der Moskauer in Köln mit „Don Quixote“ an der Seite seiner Gattin Jekaterina Maximowa). Als Choreograf hat er bisher kaum reüssiert und als zeitweiliger künstlerischer Direktor des Bolschoi-Theaters (praktisch als dessen Intendant) hat er kurze Zeit auch eher glücklos operiert.

Wassiljew will weg von dem Dampfwalzen-Ballett, als das Lawrowsky Prokofjews „Romeo und Julia“ modellhaft in den finsteren Zeiten des sogenannten sozialistischen Realismus auf die Bühne gewuchtet hat, das ist klar. Er hat das Ballett gleichsam tänzerisch verschlankt und sich dazu von seinem Bühnenbildner Sergej Barkhin Kostüme à la Botticelli entwerfen lassen. Ein paar Details registriert man als Gewinn – zum Beispiel den geschickten Umgang mit der Figur des sonst immer verlegen vor sich hin agierenden Grafen Paris und die generelle Entpathetisierung der mimischen Passagen. Eine eigene Inszenierungsperspektive außer der durch das Orchesterplacement bedingten Bühnen-Zweiteilung hat er dem Werk allerdings nicht abgewonnen – an Cranko, Neumeier oder Béjart darf man dabei nicht denken, geschweige denn an Robbins oder Preljocaj.

Allzu viel scheint aus dem unseligen Erbe des Sowjetballetts übernommen – zum Beispiel die Profilierung der Amme und ihres albernen Begleiters – vor allem aber das Schrittmaterial, klassisch, en caractère oder folkloristisch – die üblichen Schul-Enchaînements, ohne dass eine individuelle Handschrift Wassiljews zu erkennen wäre. Das ist alles brav und kompetent und handwerklich solide arrangiert, musikalisch eher penibel nachbuchstabiert – so wie wir es in den allzu vielen Inszenierungen von Prokofjews „Romeo und Julia“-Ballett dutzende Male gesehen haben (so dass man nachdrücklich für ein „Romeo und Julia“-Moratorium plädieren möchte – vier oder fünf Jahre ohne „R.u.J.“, das wäre mal eine globale Übereinkunft, der wir gerne zustimmen würden).

Da können auch die tüchtigen Tänzer des Litauischen Nationalballetts kein individuelles Kapital draus gewinnen. Und so tanzen sie diese Banalitäten, die ihnen Wassiljew auf den Leib choreografiert hat, mit Elan und nicht ohne eine gewisse technische Virtuosität, eine kreuzbrave Truppe, sehr personalstark, ohne sonderliches Persönlichkeitsprofil. Dabei haben sie eine ausgesprochen sympathische Ballerina als Julia, Natalia Ledowskaja, die wie eine leichte Sommerbrise die fast zweihundert Minuten überlange Vorstellung durchweht. Ihr Romeo, Georgi Smilewski, ist ein gut erzogener Anstandspartner, ein sonderlich erotisch begehrenswerter Mann ist er nicht. In dieser Hinsicht ist ihm der Tybalt von Aleksandr Molodow eindeutig überlegen, dunkel, mit einem leichten Hauch von Dämonie und Verruchtheit, der nicht zuletzt als gediegener Techniker Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein sehr eleganter Graf Paris ist Aurimas Paulauskas, ein etwas pummeliger Mercutio der gutmütige Valery Fadejew. Wie gesagt, die Litauer aus Kaunas tanzen, wie sich das für eine rechtschaffene Truppe aus der unmittelbaren Nachbarschaft Russlands gehört.

Das eigentliche Ballett „Romeo und Julia“, wie es sich Prokofjew bei seiner Arbeit an der Komposition vorgestellt haben mag, aber nie auf der Bühne erlebt hat, ereignete sich an diesem Abend über den Köpfen der Musiker und Tänzer im zollfreien Freiraum der Klänge! Einen einzigen, wirklich anrührenden Moment gab es, als sich Maestro Rostropowitsch zum Schluss der Vorstellung nach vorn begab, zu den beiden toten Liebenden, und ihre Hände wie ein säkularer Priester miteinander verschränkte.

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