Der neue Ballettabend mit Balanchine, van Manen und Spoerli

oe
Zürich, 19/10/2002

Nachgeholt: die Zürcher Saisoneröffnungspremiere vom 1. September in der siebten Vorstellung. 24 Stunden nach Hamburgs gloriosem „Nijinsky“ in Baden-Baden kann sich der neue Zürcher Abend sehr wohl behaupten: die Kompanie quicklebendig mit hohem Energiepegel, das Publikum des gut besuchten Hauses begeistert mitgehend. Wie stets in Zürich am Anfang der Saison ein Programm mit Kammermusik, live und ausgesprochen animiert gespielt von dem fein sensibilisierten Alexej Botvinov am Flügel (Prokofjew und Chopin) und dem geradezu in sphärische Höhen entrückten Amati Quartett mit Daniel Pezzotti als zweitem Cellisten (bei Schubert).

Nicht recht dazu passend als Auftakt Balanchines „Allegro Brillante“ zu einer reichlich plärrenden anonymen Einspielung – ordentlich, aber ohne den notwendigen funkelnden Diamantschliff getanzt von den vier Paaren, mit Evelyne Spagnol und Stanislav Jermakov als etwas trockenen Solisten. Danach dann van Manens „Sarcasms“ – hier hätte ich mir von Ana Quaresma und Jermakov über die solide Ausführung hinaus ein Quentchen mehr an augenzwinkerndem Witz gewünscht. Als Wiederaufnahme aus dem Jahr 1997 Spoerlis Chopin-„Nocturnes“ – sozusagen seine Antwort auf Robbins‘ „Dances at a Gathering“, stimmungsdicht und geheimnisdurchwoben: das Tänzersextett um den quirligen Nicolas Blanc ganz in den zärtlich-evokativen Linienfluss Chopins eingeschmiegt.

Einer enormen Herausforderung hat sich Spoerli dann mit dem Entschluss Schuberts großes Streichquintett C-Dur zu choreografieren gestellt – und ist dabei immerhin über Neumeier und ganz entschieden über Schlömer hinausgelangt. Schließlich gehört Schuberts D 956 aus seinem Todesjahr 1828 zu seinen Gipfelwerken – mit seiner extremen Ausdrucksskala könnte man es wohl auch für eine verkappte Sinfonie halten.

In einer neblig verdämmernden Parklandschaft (Jordi Roig) kommt es zu Begegnungen eines notorischen Einzelgängers (Dirk Segers, hell, aber doch sehr gedämpft und oft gebremst, verzögert) und seines draufgängerischen Rivalen (Jozef Varga, dunkel mit einem Hauch mephistophelischer Dämonie) mit drei Frauen, die ich mir unterschiedlicher charakterisiert gewünscht hätte (Karine Senca, Ana Quaresmea und Marine Castel).

Dazu gibt es fünf weitere Paare als Hintergrundfolie, die nur im stürmischen Scherzo eine geballte Eigenständigkeit entwickeln und am Schluss dann in melancholischer Regen-Tristesse wie hinter einem Schleier verharren. Über dem Ganzen liegt ein Hauch von müder Vergeblichkeit, auch von Abschiednehmen. Es sind in Analogie zu Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ Tänze in einer stummen Sprache, ungemein beredt, aber eben musikalisch beredt, die sich jeder wörtlichen Konkretisierung entzieht. Stichworte liefern allenfalls die musikalischen Bezüge zu ein paar Schubert-Liedern aus dem „Schwanengesang“, auch zum „Tod und das Mädchen“ und „Doppelgänger“ und zum Schluss dann an „Mein Gebet“ mit dem „Sturz in die Lehte“.

Wie gesagt: konkret dingfest machen lassen diese Tänze nicht – eher scheinen sie in den Raum projizierte phantastische Kalligrafien der Musik. Die romantische Musik ist ja wohl – trotz Bach und trotz „Fille mal gardée“ – Spoerlis eigentliches Zuhause; sicher ist er der romantischste unter unseren Choreografen, und so gehört „Quintett“ zweifellos zu seinen stimmigsten Balletten – ein filigranes Wunderwerk, von den Zürcher Tänzern mit fabelhafter musikalischer Einfühlung realisiert, die ihm die Qualität eines von magischem Innenleuchten erfüllten Poême dansée verleihen.

Kommentare

Noch keine Beiträge