„Romeo und Julia“ von John Cranko, Tanz: Ksenia Ryzhkova und Jonah Cook

Das Cranko-Fest geht weiter

„Romeo und Julia“ beim Cranko-Fest am Bayerischen Staatsballett

Zwei gut getanzte Vorstellungen mit kleinen Defiziten im Rollenspiel und einem wunderbaren Staatsorchester

München, 14/02/2018

Würdig geriet diese zweite Huldigung („Onegin“ machte letzte Woche den Anfang) an John Cranko vor allem dank des Bayerischen Staatsorchesters, zumal schon die Ouvertüre von Sergej Prokofjews eindringlich charakterisierender Ballettmusik unter der hellwach differenzierenden Leitung von Robertas Servenikas kraftvoll-poetisch aus dem Graben schwoll. Nach Romeos Verabredung mit Rosalinde füllte das Ensemble den Marktplatz von Verona mit Präzision und übermütiger Lebenslust, sodass wie aus dem Nichts das Gefecht entstand, dem sich Parteigänger der Capulets und Montagues anschlossen. Die Duelle Tybalts und Romeos sowie der Oberhäupter der verfeindeten Familien gehen in eine belustigend wilde Schlacht aller über – und hier setzt Cranko dem allen einen bedeutsamen Moment dagegen, der auch darstellerisch das Beste bot: Als von seinen Wachen begleiteter, greiser Herzog von Verona agierte Peter Jolesch mit atemberaubender Präsenz, die auch alle anderen an Bedeutung wachsen ließ. Damit war die bedrohliche Bürgerkriegs-Atmosphäre konstituiert, mit der wiederum die folgenden Szenen kontrastieren, was ja eines der Merkmale genialer Erzählung und damit auch der Ballettdramen John Crankos ist. Im idyllischen Zypressenhain also spielt Julia nun mit ihrer Amme und bekommt von der Mutter ihr erstes Ballkleid. Dabei deutete Ksenia Ryzkhova ihre Wandlung von lebhafter Kindheit zu dezenter Würde an der Schwelle zum Erwachsensein leicht und gerade deshalb glaubhaft an.

Nach der tänzerischen Herausforderung des Trios vor dem Hause Capulet, die Jonah Cook als Romeo, Alexej Popov als Mercutio und Dmitrii Vyskubenko als Benvolio sicher bestanden, eröffnete das Corps majestätisch den Ball: die Herren gravitätisch korrekt, die Damen mit deutlich zurückgebogener Haltung des Stolzes. In diesem düsteren Raum sind die mutwilligen Freunde Romeos gefährdet. Auch sonst passt nichts zu dem, was den Protagonisten in der Öffentlichkeit passiert. Julia erscheint im neuen Kleid und fühlt sich schön darin, doch ihren Eltern dient es bereits dazu, die Tochter dem von ihnen vorgesehenen Mann zuzuführen. Ryzhkova ist schön und anmutig in dieser Szene, und Erik Murzagaliyev als Graf Paris auch nicht zu verachten. Aber es funkt nicht zwischen beiden, anders als bei Julias Blickkontakt mit Romeo. Allerdings agierte Jonah Cook, während Ryzhkova unter anderem mit wunderschönen Arabesken Julias Variation statt für Paris für Romeo tanzte, zu auffällig. Seine Freunde, Alexey Popov und Dmitrii Vyskubenko, lenkten die Ballgäste jedoch gut von Romeos unwillkürlicher Entgleisung ab. Als Romeo und Julia allein sind, dehnt sich Ryzhkova schön in Julias Emotionen und schwebte im Überschwang der Liebe. Jonah Cook beeindruckte mit Romeos tänzerischen Statements und konnte Ryzhkova auch in den langen Hebungen die nötige Ruhe und Sicherheit geben. Es folgt seine Entdeckung durch Tybalt, den Emilio Pavan bei seinem Rollendebüt auf solider Basis verkörperte. Bei der drohenden Eskalation glättete Norbert Graf als Graf Capulet souverän die Wogen. Dann schloss sich diese Szene mit dem Ensembletanz wie eine Ringkomposition, nicht ohne die gefährliche Konstellation zu verdeutlichen, dass Julia mehr für den verbotenen Gast empfindet als für den ihr zugedachten Gatten.

In der Balkon-Szene genießt man die große Bühne des Nationaltheaters, die Jürgen Rose, zumal ihn John Cranko darum bat, bei seiner Münchner Fassung vor 50 Jahren zu einer faszinierenden Abfolge wunderbarer Bühnenbilder anregte. Im Garten fanden sich die Liebenden und entwickelten, sie zaghaft, er vorsichtig, ihren Pas de deux. Dabei beeindruckte Jonah Cook mit seiner gut gesprungenen Huldigung, und Ksenia Ryzhkova zeigte mit hohen Ecartés und Arabesken, wie das Julias Gefühle für ihn beflügelte. Wenn auch beide Julias Rückwärtsdiagonale, das Bild ihrer Überwältigung, nicht bis zum letzten Moment vor ihrem Fallen ausreizten, folgte das Publikum doch gespannt ihrer Verzauberung, wie die anhaltende Stille vor dem Applaus bestätigte.

Wenn man erleben kann, was hier als Handlung von Crankos Ballettdrama paraphrasiert ist, darf man von einem großartig gelungenen Abend sprechen. Allerdings war dieser erste Akt auch schon das Beste, obwohl noch so viel mehr möglich gewesen wäre. Bietet der zweite Akt doch mit dem ausgelassenen Treiben auf dem Marktplatz, den Zigeunerinnen und ihrer lasziven Freiheit (Maria Chiara Bono und Freya Thomas debütierten neben Elisa Mestres), dem sich schwindlig tanzenden Faschingsprinzen (neu: Jinhao Zhang) und seinen Clowns, den wirbelnden Reihen bunten Volks und Mercutio im Zentrum alles, womit Crankos Choreografie das Leben feiert. Dazwischen als ruhige Zäsur die schöne Szene der heimlichen Trauung, zu der Julia Romeo durch ihre Amme (Elaine Underwood) in Pater Lorenzos Klause rufen lässt, wo Peter Jolesch – immer noch jugendlich – dessen tiefe Einsicht in die Nähe von Tod und Leben nachfühlen ließ. Dann schlägt es um, als Romeo, bei seiner Rückkehr auf den Marktplatz glücklich, Tybalt in die Arme läuft, der ihn zum Kampf auffordert. Mercutio springt für den aus plausiblen Gründen kampfunwilligen Freund in die Bresche, und dann fehlt Vieles: Warum küsst Mercutio beim Fechten die Zigeunerinnen, obwohl er vorher mit Frauen nichts am Hut zu haben schien? Wo war seine Lebendigkeit, mit der er alle bezauberte?

Das erstklassige Programmheft, das mit Aufsätzen von Angela Reinhardt, Britta Arens und Wolfgang Oberender sowie einer Erinnerung von Jürgen Rose an John Cranko eine kenntnisreiche, unbedingt lesenswerte Lektüre ist, weiß unter anderem, dass Shakespeare in Mercutio seine höchste Kunst gezeigt habe. Gerade so hat Cranko ihn für das Ballett gestaltet. Hätte man da Alexey Popov, der ja sympathisch wirkt und ein guter Tänzer ist, nicht über dessen Wesen und das, was er darzustellen hat, mehr beibringen müssen? Wenn zu Rollengesprächen niemand bereit ist, sehe man zum Beispiel die Interpretation Tomasz Kajdanskis an, die hoffentlich im Videoarchiv zu finden ist, oder engagiere ihn als Gast-Coach. Er schillerte Ende der 1980er Jahre nach Tybalts Todesstoß so zwischen Lebensdrang und Ableben, dass auch seine Freunde auf der Bühne glaubhaft zweifelten, ob er nicht noch mit seinem Sterben vielleicht Scherz trieb. Damals gab es nach dem zweiten Akt eine Pause, die man auch brauchte, so mitgenommen war man von Mercutios Ende. Popovs Mercutio bot dagegen zum Miterleben wenig, und wir erwähnen nur, dass Tybalt durch Romeos spontane Rache starb und Gräfin Capulet (Séverine Ferrolier) darüber wild verzweifelte.

Nach einem filigranen Zwischenspiel bannte das Orchester die Zuschauer machtvoll mit der musikalischen Ankündigung der Katastrophe, dann hob sich zu zarten Flötenklängen der Vorhang nach Romeos und Julias einziger Liebesnacht. Romeo muss fliehen, sie will ihn halten. Der anschließende Pas de deux ähnelt dem unter dem Balkon in Vielem, doch Ryzhkova und Cook zeigten klar, dass er unter völlig anderem Vorzeichen steht, nämlich dem der Hoffnungslosigkeit. Er entfernte sich höchst rücksichtsvoll, doch für Julia kann es kaum härter kommen, denn gleich darauf drängen ihre Eltern sie zum Bund mit Paris. Ihr bleibt nur die Flucht zu Pater Lorenzo, der ihr in der Tat einen neuen Weg weist. All dies tanzt Ryzhkova solide, doch nicht erschütternd. Dazu braucht sie noch mehr Erfahrung. Aber sie tut nichts Falsches, sondern scheint darauf zu warten, was in ihr wächst. Alle Achtung! Da tanzt sich ein großes Talent mit Herz und Verstand seriös nach oben.

Cranko aber war bereits im Besitz all seiner künstlerischen Mittel. Nach Julias vermeintlichem Tod durch Gift hat er meisterhaft das anmutige Oktett der Lilienmädchen dagegengesetzt. Am freudigen Morgen ihres Hochzeitstags wird Julia von ihrer Amme und ihrer Mutter tot im Bett gefunden. Mit ihrem Begräbnis und dem tragischen Doppel-Selbstmord der Liebenden in der Gruft endete keine große, aber eine gute Vorstellung. Solche Abstufungen müssen für ein großes Haus erlaubt sein, in dem man von Beginn an und in den 30 Jahren, die ich nun überblicke, immer wieder große Interpreten sah. Was man für das angemessene Ritual einer Cranko-Aufführung berücksichtigen muss, kann man in Alexandra Karabelas Bericht über die Jubiläumsvorstellung, mit der man 50 Jahre „Onegin“ in Stuttgart feierte, lesen.

Am Bayerischen Staatsballett bewegte sich vier Tage später, am 14.02.2018, die „Romeo“-Besetzung mit Ivy Amista und Osiel Gouneo in den Titelrollen etwa auf gleichem Niveau. Allerdings vernachlässigte Gouneo oft zwischen seinen starken Tanzsequenzen zu leger seine Spannung in den Beinen, was die Stilebene verletzte. Er hat sich aber die Rolle Romeos inzwischen gut angeeignet. Ivy Amistas Stärken lagen in ihrem Temperament und ihrer einfühlsamen Aufmerksamkeit für darstellerische Details. Erik Murzagaliyev trat an diesem zweiten Abend als Tybalt auf und hatte unangestrengt bedrohlichere Präsenz. Und Javier Amo war ein spielfreudigerer Mercutio, wenn auch nicht der ideal sprühende Vulkan. Unter den gut einstudierten Ensembleszenen gefiel besonders die der Lilienmädchen mit ihrer synchron getanzten, anmutigen Formation.

 

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