Grenzenlose Grenzen

Die Uraufführung von Jessica Nupens „Don’t trust the border“ in der Hamburger Kampnagelfabrik begeistert mit unbändiger Fantasie und Kreativität

Jessica Nupen hat hier ein wunderbares Kaleidoskop afrikanischer Lebensfreude, aber auch Nachdenklichkeit und Gesellschaftskritik geschaffen.

Hamburg, 18/01/2018

Schon im Oktober 2015 vermochte Jessica Nupen auf Kampnagel zu begeistern – damals mit „Romeo & Juliet/Rebellion & Johannesburg“. Jetzt hob die weiße Südafrikanerin, die in Hamburg ebenso zuhause ist wie in Johannesburg, ihr neuestes Werk „Don’t trust the border“ am gleichen Ort aus der Taufe – und überzeugte erneut. Selten sieht man bei solchen Performances so viel Kreativität, so viel blühende Fantasie in Kombination mit einer ausgefeilten Choreografie, Lichtregie und Dramaturgie.

Schon das Bühnenbild ist speziell: ein von raumhohen Gazevorhängen verschleiertes Quadrat; die Zuschauer sitzen an allen vier Kanten auf leicht ansteigenden Tribünen. In einer Ecke des Bühnenquadrats kauert eine Frau zwischen grünen Müllsäcken und pustet hektisch dünne grüne Plastiktüten auf, verknotet sie und stopft sie in die Müllsäcke oder deponiert sie um sich herum. In einer anderen Ecke steht eine weiße Schiedsrichtertreppe, wie sie im Tennis üblich ist. Ein Afrikaner in roter Badehose hat sich darauf postiert. Während sich das Publikum auf die Plätze verteilt, zucken Blitze zu Regenrauschen und Donnerschlägen über die Gazeschleier. Vier mit roten Stoffbändern maskierte Sargträger nähern sich und wandern einmal um das Bühnenquadrat, um es dann über eine der Ecken zu betreten. Ein afrikanisches Lied singend beschreiten sie die Bühne, während das Skelett eines Elefanten auf den Gazeschleier projiziert wird (zumindest an der Seite, auf der ich saß, ob das auch auf den anderen drei Seiten so war, vermag ich nicht zu sagen). Plötzlich schießt ein Boxer aus dem Hintergrund und wirbelt am Rand entlang, wild um sich puffend und laut rufend. Er attackiert die Sargträger, und plötzlich entsteht ein wildes Handgemenge, in dessen Verlauf aus dem Sarg ein Trog wird, den sich die vier Träger überstülpen und im Gleichschritt darunter hertänzeln. Aus Trauer wird Komik. Der Boxer liefert sich mit einem anderen Tänzer einen Ringkampf, von dem man nicht so recht weiß, ob es einfach eine spätpubertäre Rauferei ist oder ein echter Kampf. Die Grenzen verwischen.

Harte Beats setzen ein, die Tänzer – drei Frauen, vier Männer – ziehen die Gazevorhänge auf, und los geht’s mit dem prallen Leben: Der Trog wird zur Badewanne, aus der heraus ein Mann mit einem anderen über ein überdimensionales Handy telefoniert, der andere nähert sich und die beiden verhaken sich ineinander, ständig weitersprechend. Die Grenzen verfließen. Ein Mann stakst auf Holzklötzen am Seil herein – in Afrika (und nicht nur dort) ein beliebtes Spielzeug von Kindern (dann allerdings meist aus Blechdosen) – und mischt sich ins Getümmel. An einer Seite wird der Vorhang wieder zugezogen. Zwei Frauen spannen ein elastisches Tuch zwischen sich und ziehen es zu einem Band auf, das eine Grenze markiert. Der Mann in der roten Badehose – der sich immer wieder als eine Art Chef aufführt, aber doch keiner ist bzw. immer wieder vorgeführt und zu Fall gebracht wird – hebt einfach das Bein und steigt darüber hinweg. Ein zweiter verfängt sich in diesem Band, strauchelt, fällt hin – und kann die Grenze nicht überwinden. Andere versuchen sich darin, das Band auszutricksen – die beiden Frauen halten erfindungsreich dagegen. Einer zieht das Tuch auseinander, schlingt es sich um den Kopf, es wird zur Maske, zur Tarnung, zum Schutz.
Und so geht es weiter – es ist ein ständiges Ausloten von Grenzen – äußeren wie inneren, künstlichen wie selbst gesetzten. Kombiniert mit einer ausgefeilten Lichtregie, vielfältigen Projektionen, mal nur auf die Vorhänge, mal auf die Bühne oder über den ganzen Raum. Die Musik ist überwiegend modern, oft mit stampfenden Rhythmen, Techno, Hardrock, und zwischendurch diese melancholisch-melodische afrikanische Musik, einmal sogar ein kurzes Stück aus „Laudate Dominum“ von Mozart. Dazu schiebt dann einer der Männer eine Matratze auf die Bühne, die ebenso Grenze wie Spielzeug ist, und unversehens wird aus der zuvor eher ernsten Stimmung ein Happening, bei dem die zu Beginn aufgeblasenen Plastiktüten wieder zum Einsatz kommen. Die Disco-Kugel an der Decke wird angeworfen, und alles dreht sich. Bis die Musik plötzlich abbricht und Stille sich ausbreitet. Einer der Tänzer beginnt, Mundharmonika zu spielen. Die anderen verharren, lauschend, beobachten, abwartend.

Der Mann in der roten Badehose kommt – jetzt mit diversen anderen Kleidungsstücken angetan – als alienhaftes Ungeheuer mit einer höchst kunstvollen Monstermaske aus roten Plastikteilen auf die Bühne und wird von den anderen in schöner Einigkeit bekämpft. Die Menschen setzen diesem Eindringling eine klare Grenze, in der er sich verfängt und letztlich – seiner Maske beraubt – besiegt wird. Alles endet in einem wilden Tanz eines Afrikaners. Was für ein selbstbewusstes Finale! Und was für großartige Tänzer*innen: Themba Mbuli, Thilani Chake, Lorin Sokool, Thamsanga Masoka, Mbulelo Jonas, Olivia Papoli-Barawati, Angela Kecinski – die eine wie der andere großartig und virtuos.

Jessica Nupen hat hier ein wunderbares Kaleidoskop afrikanischer Lebensfreude, aber auch Nachdenklichkeit und Gesellschaftskritik geschaffen, mit einer subtilen Choreografie, die sich ebenso sachte wie schwerelos unter die Haut schiebt. Nur manchmal drängt sich der Gedanke auf, ob ein bisschen weniger nicht doch mehr wäre, so dicht ist die Fülle der Eindrücke und Einfälle. Und dann wirkt das Ganze aber doch so in sich durchdacht und stimmig komponiert, dass man gleich wieder Abbitte leistet und denkt: Nein, bloß keine Grenzen setzen! Bitte grenzenlos weiter so!
 

 

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