„Fractus V“ von Sidi Larbi Cherkaoui

„Fractus V“ von Sidi Larbi Cherkaoui

Brüche, aus denen Stärke erwächst

Sidi Larbi Cherkaoui und seine Kompanie Eastman eröffnen mit „Fractus V“ die Spielzeit 2017/18 in der Kampnagelfabrik

Mit Sidi Larbi Cherkaouis „Fractus V“ gelang der Kampnagelfabrik ein furioser Spielzeitauftakt.

Hamburg, 15/10/2017

Mit Sidi Larbi Cherkaouis „Fractus V“ gelang der Kampnagelfabrik ein furioser Spielzeitauftakt. Das Stück, in gekürzter Fassung 2014 für den 40. Geburtstag des Wuppertaler Tanztheaters kreiert, wurde schon im September 2015 in der jetzigen Version in Antwerpen aus der Taufe gehoben, passt aber jetzt fast noch besser in unsere Zeit, die mehr denn je geprägt ist von Fakenews, Lügen, Gier, Hass, Mordanschlägen und Verblendung. „Fractus V“ ist nicht zuletzt ein politisches Statement, denn Cherkaoui kombiniert hier den Tanz mit Texten des jüdisch-amerikanischen Linguisten und politischen Philosophen Noam Chomsky (geb. 1928), der darin immer wieder Bezug nimmt auf die Manipulation der Menschen durch die Massenmedien.

Cherkaoui, seit 2015 künstlerischer Direktor des königlich flämischen Balletts, vereinigt fünf verschiedene zeitgenössische Tanzstile der Tänzer mit vier verschiedenen Musikrichtungen der Musiker und damit auch neun unterschiedliche kulturelle Traditionen. Der Franzose Dimitri Jourde steht für zirzensische Akrobatik, der Amerikaner Johnny Lloyd, von Haus aus Musiker, für den Lindy Hop, während sich der Spanier Fabian Thomé Duten als Flamenco-Tänzer einen Namen gemacht hat (und an diesem Abend aufgrund eines akut gebrochenen Zehs nur bedingt einsatzfähig war, aber trotzdem auftrat – auf die Flamenco-Einlage musste er allerdings verzichten). Der Deutsche Patrick Williams Seebacher alias Twoface ist der Spezialist für Hip Hop, Popping und Breakdance, und Sidi Larbi Cherkaoui selbst vereinigt mit seiner marokkanisch-belgischen Herkunft sowohl die arabische wie auch die europäische Tanztradition in sich. Auf ähnliche Weise kommen in der Musik vier Stilrichtungen zusammen: mit Shogo Yoshii aus Japan (Gesang und Percussion), Woojae Park aus Korea (Gesang, koreanische Harfe und Zither), Kaspy N’dia aus dem Kongo (Gesang) und dem Inder Soumik Datta (Gesang und Sarod). So vermischen sich neun Männer mit ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund zu einem faszinierenden neuen Ganzen.

Sidi Larbi Cherkaouis Bewegungssprache entspricht dieser Vielfalt. Er lässt seine Tänzer schlangengleich biegsam über die Bühne mäandern, sie krümmen und werfen sich, sie schlingen und stürzen sich umeinander und übereinander, als gebe es keine Wirbelsäule und keine geraden Knochen. Hände und Arme formen Ornamente und vereinigen sich zu vielerlei Strukturen, immer wieder aufs Neue. Plötzlich wird das Bühnen-Fünfeck, das aus vielen Dreiecken besteht, aufgelöst und die Einzelteile im Halbkreis aufgestellt. Explosionen, Sirenen, Schüsse, Sprechchöre von Demonstranten sind als Background zu hören, während aus der Bühne eine Arena des Grauens wird. Ein Tänzer betritt sie mit gezücktem Revolver und schießt nun auf brutalste Weise – zu höchst realistischen Paukenschlägen des Percussionisten – auf seine Kollegen, die sich winden und krümmen und fallen, immer wieder, immer wieder aufs Neue, begleitet von melancholischer Musik auf dem Keyboard und der lautenähnlichen Sarod sowie klagendem Gesang. Vorne links sitzt Sidi Larbi Cherkaoui, ein Exemplar des „Spiegel“ über dem Gesicht, und hebt und senkt den Daumen jeweils im Rhythmus der Schüsse, während er auf einer Fernbedienung zappt. Plötzlich fällt das eine Opfer gegen das ganz rechts außen stehende Boden-Dreieck, und in einer Kettenreaktion stürzen alle anderen um, bis das letzte den TV-Zapper erschlägt und einer der Tänzer den Erschossenen fotografiert.

Immer wieder unterbrechen gesprochene Sequenzen der Texte von Noam Chomsky den Tanz und die Musik – zum besseren Verständnis wird die deutsche Übersetzung am Bühnenhintergrund eingeblendet. Es sind Texte, die in unsere Zeit passen mit ihrer Nachdenklichkeit und ihren Warnungen vor den Manipulationen unserer Zeit. Es geht aber auch darum, sich der Flut der Eindrücke und der Medien immer wieder zu entziehen: „Warum wollen Sie nicht Sie selbst werden? Weil Sie vom Denken abhängig sind. ... Um etwas zu haben, worüber Sie nachdenken können, müssen Sie von Zeit zu Zeit aufhören zu denken.“

Während Stroboskop-Licht über die Bühne zuckt und der Erschossene in der Mitte liegen bleibt, räumen die anderen die umgefallenen Dreiecke weg. Die Tänzer kommen wieder zusammen und vereinigen sich wiederum in ihren schlangengleichen Bewegungsformationen, bis sie alle fünf zusammen ein Riesenmonster bilden, das das Publikum ins Visier nimmt. Und dann das Überraschungsmoment, als Shogo Yoshii seine Trommeln im Stich lässt, sich zu den Tänzern gesellt und eine Art Steptanz beginnt, zu dem er gemeinsam mit den anderen mit den Händen den Rhythmus klatscht – ein Sog, dem sich keiner entziehen kann. Die rechte Bühnenseite erstrahlt in Rot-Orange, der Hintergrund in Blau, und eine raffinierte Lichtregie lässt die Tanzenden als Schattenrisse erscheinen. Musik und Tanz steigern sich volkstanzähnlich gegenseitig hoch – und auf einmal erfüllen Heiterkeit, Kraft und Zuversicht den Raum. Von rechts und links werden die Instrumenten-Podeste in die Bühnenmitte geschoben und wieder zurück. Und zum Schluss vereinigen sich Tänzer und Musiker wiederum zu einem gemeinsamen Lied: „Adieu le Carneval“.

„Fractus V“ besticht durch seine emotionale wie tänzerische Dichte, durch seine Kraft und vor allem durch die Virtuosität seiner Tänzer und Musiker. Dass es nur Männer sind, ist natürlich Absicht. Seine beiden Stücke vor „Fractus V“, sagt Sidi Larbi Charkaoui in einem im Programmzettel abgedruckten Interview, seien Duette mit Frauen gewesen. Jetzt habe er sich mit der männlichen Identität beschäftigen wollen und mit den Fragen des Älterwerdens. Denn: „Die meisten Probleme, mit denen wir auf der Welt konfrontiert sind, werden von Männern gemacht. Frauen kommen nicht zusammen, um zu entscheiden, was Männer machen sollen oder nicht. Aber in der ganzen Welt passiert genau das, dass eben Männer für Frauen entscheiden. Ich dachte, man muss Wege finden, die männliche Identität neu zu betrachten. Auf der Bühne sieht man also den Versuch einer Dekonstruktion der männlichen Identität, die verschiedene Facetten aufzeigt, die idealerweise universal werden und nicht in Klischees verfallen.“ Das ist rundum gelungen. Indem Cherkaoui immer wieder Brüche setzt und die Dinge neu zusammenfügt, erwächst Stärke daraus.
Das Publikum in der ausverkauften K6 war zu Recht komplett aus dem Häuschen und feierte den Choreografen und die ganze Truppe mit minutenlangen standing ovations.

 

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