„Mitten wir im Leben sind“ von Anne Teresa De Keersmaeker.

„Mitten wir im Leben sind“ von Anne Teresa De Keersmaeker.

Verkörperung des Abstrakten

Anne Teresa De Keersmaeker und Jean-Guihen Queyras mit Bachs sechs Cellosuiten in der Elbphilharmonie

Eine Verbindung zwischen Musik und Tanz will sich nicht herstellen, das Abstrakte bleibt abstrakt und seltsam seelenlos.

Hamburg, 04/09/2017

Es könnte zu einer schönen Tradition werden, dass die Elbphilharmonie ihre Saison nicht nur musikalisch, sondern auch tänzerisch eröffnet. Im Januar 2017 hatte Sasha Waltz die Foyers und den Großen Saal bespielt, jetzt kam Anne Teresa De Keersmaeker mit drei Tänzern und einer Tänzerin ihrer Kompanie „Rosas“ an die Elbe, um gemeinsam mit Jean-Guilhen Queyras die gerade erst bei der Ruhrtriennale aus der Taufe gehobenen sechs Cello-Suiten von Bach unter dem Titel „Mitten wir im Leben sind“ aufzuführen und damit die Saison 2017/18 in der Elbphilharmonie zu eröffnen. Der Titel zitiert einen mittelalterlichen Vers, dessen Fortsetzung lautet „mit dem Tod umfangen“. Und genau darum geht es hier, in der Musik ebenso wie im Tanz: um das Leben, das eingebettet ist in den Tod; um die Verbindung von Himmel und Erde, Göttlichem und Menschlichem; um die Vertikale, die Geste der Aufrichtung, der Eigenständigkeit, der Aktivität, und um die Horizontale, die Geste der Hingabe, der Passivität.

Bachs Musik sei „immer sehr komplex und einfach zugleich“, sagte De Keersmaeker in einem der Vorstellung vorausgegangenen Pressegespräch. „Sie hat eine elementare Qualität, sie ist nicht kompliziert, aber sehr komplex, diesseitig und jenseitig.“ Die Herausforderung bestehe darin, den Spannungsbogen über alle sechs Suiten hinweg zu erhalten, und doch jeder einzelnen Suite ihren speziellen Charakter zu lassen. Sie nähere sich dieser Musik immer „in großer Demut und mit einer gewissen Beklommenheit“, sagte De Keersmaeker, weil kein anderer Komponist „diese perfekte Verkörperung des Abstrakten“ ausstrahle. Er mache „das Göttliche menschlich und das Menschliche göttlich“.

Leider ist De Keersmaeker diese Verkörperung des Abstrakten im Tanz nicht wirklich gelungen. Sie stellt zwar der grandiosen Schlichtheit von Bachs Musik ebenso schlichte und auf ein tänzerisches Minimum reduzierte Bewegungsfolgen an die Seite. Und zweifellos hat sie Bachs Musik mit mathematischer Akribie analytisch durchdrungen, was sich nicht nur im Tanz selbst zeigt, sondern auch auf dem eigens auf dem Parkett der Elbphilharmonie-Bühne aufgebrachten dunklen Tanzboden, auf den Kreise, Ellipsen und Linien gemalt sind. Aber eine richtige Verbindung zwischen Musik und Tanz will sich dennoch nicht herstellen, das Abstrakte bleibt abstrakt und seltsam seelenlos.

Tanz und Musik setzen zu Beginn fast wie nebenbei ein: Der Cellist betritt bei hellem Saallicht die Bühne und wartet gar nicht erst den Begrüßungsapplaus ab, sondern setzt sich schnurstracks auf einem dreibeinigen Hocker direkt vor die Rückwand der Bühne, mit dem Gesicht zur Wand und somit mit dem Rücken zum Großteil des Publikums, und beginnt zu spielen. Später wird er den Hocker bei jeder neuen Suite um 90 Grad gedreht platzieren, so dass jede Seite des Weinberg-Runds einmal angespielt wird. Wie zufällig ist ein Tänzer auf Turnschuhen in schwarzem T-Shirt und schwarzen Shorts mit hereingekommen und wird von De Keersmaeker (in einem schlichten blauen Kleid mit tiefem Rückendekolleté und scharlachroten Turnschuhen) mit einer Handbewegung an seinen Platz gestellt. Er greift Takt und Duktus der Musik auf, geht und springt, kniet und rollt, langsam oder schnell, gewollt normal und unvirtuos, meist den ganzen Fuß aufsetzend. Immer wieder quietschen die Gummisohlen über den Bühnenboden – was die Musik stört und manchmal sogar übertönt.

Die ersten vier Suiten (mit den sich stets wiederholenden Teilen Prélude – Allemande – Courante – Sarabande – Menuet oder Bourrée I und II – Gigue) hat De Keersmaeker als Soli ihren drei Tänzern (Michael Pomero, Julien Monty, Bostjan Antoncic) und einer Tänzerin (Marie Goudot) zugedacht. Die Allemande tanzt sie jedes Mal selbst mit. Vor jeder Suite klebt De Keersmaeker mit einem ihrer Tänzer Streifen eines Fünfsterns in verschiedenen Farben. Mit Einsetzen der Musik entfaltet sich ein Dialog zwischen dem Cello und den Tänzern, der aber oft eher zum Monolog gerät. Es bleibt eine seltsame Distanz zwischen Musiker und Tänzern, auch zwischen Bühne und Publikum, da will der Funke nicht so recht überspringen.

In der vierten Suite gibt es erstmals einen Bruch: Der Cellist verlässt zwischendurch die Bühne, und es folgt wie eine Art Kadenz Tanz pur. Auch die fünfte, diese wohl dunkelste und schwermütigste unter den sechs Suiten, verläuft anders, hier haben Queyras und De Keersmaeker am stärksten eingegriffen. Sie beginnt mit einem Solo De Keersmaekers, die Allemande spielt der Cellist alleine, für die Courante kommt ein Tänzer dazu, danach verlässt Jean-Guihen Queyras die Bühne und spielt die Sarabande aus dem Off – irgendwo hinter der Bühne, unsichtbar; wie aus weiter Ferne wehen die Klänge durch den Raum und verklingen schließlich ganz, während sich der Tänzer vorwiegend am Boden weiterbewegt und schließlich am Bühnenrand mit dem Kopf nach unten liegenbleibt, während das Licht immer spärlicher wird. Von einem der Ränge ruft jemand „Ich hätte gern die Musik dazu!“ – denn Gavotte I und II und Gigue dieser Suite bleiben ungespielt. Aber der Ruf bleibt unerhört – Stille kehrt ein und breitet sich aus.

Bis in der sechsten Suite dann das volle Licht wieder angeht und alle Tänzer und der Cellist auf die Bühne kommen, um „mitten wir im Leben“ zu sein. Mit dem letzten Ton findet sich jeder Tänzer an einer der fünf Spitzen des Fünfsterns – ganz außen am Bühnenrand, als wollten sie die Welt umfassen damit.

Schon während der Vorstellung – die sechs Suiten folgen ohne Pause aufeinander – verließen nicht wenige Zuschauer den Saal, und in den spärlichen Schlussbeifall mischten sich diverse kräftige Buhs für De Keersmaeker und ihre Tänzer, während Jean-Guihen Queyras gefeiert wurde. Das war durchaus nachvollziehbar – denn der Tanz hat sich hier nicht wie erhofft mit der Musik zu einem schlüssigen Ganzen vereint, das Herz und Seele erreicht hätte. Im Gegenteil: So nüchtern und spröde choreografiert und getanzt beeinträchtigte er stellenweise fast die Musik. Aus einem Miteinander wurde ein oft allzu belangloses Nebeneinander.

Lag es auch mit am Spielort? Man wähnte sich als Zuschauer „im Himmel, von in denkbarer Schlichtheit meisterlich gestalteter Schönheit überwölbt“, hatte Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung über die Weltpremiere in Gladbeck geschrieben. Vielleicht ist das raue Ambiente einer alten Fabrikhalle ein stimmigerer Rahmen für ein so elementares, stark reduziertes Werk. Vielleicht war auch die Lichtregie in der Elbphilharmonie noch nicht ausgefeilt genug – viel Zeit für Experimente blieb ja nicht, und das Ambiente in Gladbeck, wo Fenster und Türen geöffnet werden können, wo Natur und Tageslicht die Szenerie mitbestimmen, vor allem die hereinbrechende Dämmerung und natürliche Dunkelheit, war ein gänzlich anderes, vielleicht auch gerade diesem Werk adäquateres.

Bleibt abzuwarten, wie sich das Stück an die anderen, noch folgenden Spielorte anpassen wird. Die nächsten Aufführungen in Deutschland: Berlin, 9.-13. Dezember 2017 (Hebbel-Theater), Heidelberg, 9.-10. April 2018, Frankfurt, 5.-6. Juni 2018 (Künstlerhaus Mousonturm), Ludwigsburg, 12. Juli 2018 (Ludwigsburger Schlossfestspiele).

 

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