Hinschauen, nicht wegsehen!

Deutschlandpremiere von Radhouane El Meddebs „Facing the sea, for tears to turn into laughter“ beim Festival Tanz im August

El Meddeb setzt sich mit seiner tunesisch-französischen Biografie auseinander und wirft einen Blick auf seine sich stetig verändernde Heimat nach der Revolution.

Berlin, 23/08/2017

Wachsam und beobachtend, mit ernstem Gesichtsausdruck gehen die Personen auf der Bühne auf und ab, halten an ausgewählten Stellen inne, drehen erst ihre Köpfe, danach ihre Körper, um anschließend wieder in eine andere Richtung weiterzugehen. Ihre Blicke gleiten dabei immer wieder zwischen Publikum und den GefährtInnen auf der weiß eingestaubten Bühnenfläche hin und her. An der Bühnenrampe gibt es einen unversehrten Gipsabschnitt, der Rest der Bühne wirkt umrandet von Backsteinmauern, wie von Mehlspuren überzogen. Konzentriert scheint den TänzerInnen keine einzige Regung in ihrem Umfeld zu entgehen. Hinschauen nicht wegsehen. Was ist hier passiert, spukt es einem durch den Kopf. Als würden sich die Spannungen eines gerade vergangenen Ereignisses in die Haltungen der TänzerInnen (Sondos Belhassem, Houcem Bouakroucha, Hichem Chebli, Youssef Chouibi, Feteh Khiari, Majd Mastoura, Malek Sebai und Malek Zouaidi) einschreiben. Kurz schießen einem die Bilder des Tahrir-Platzes in Kairo, des Taksim-Platz in Istanbul durch den Kopf. Als handelte es sich um einen öffentlichen Platz, über den ein Windstoß hinweggefegt hätte. Begleitet werden sie vom Gesang von Mohamed Ali Chebil und dem Klavierspiel von Selim Arjoun, der zu Beginn des Stückes, ganz in Weiß gekleidet, als erstes von den Seiten der Zuschauerränge den Bühnenplatz betritt. Woraufhin die anderen nach und nach folgen. Auch die Musiker werden immer wieder in die linearen Wege, die sich gegenseitig kreuzen, miteinbezogen, auch ihre Blicke lassen nicht ab. Sie halten stand.

Erwartend und herausfordernd umkreisen sich die TänzerInnen mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und kämpferischer Lust. Bis ein Tänzer und später eine Tänzerin sich aus den geometrischen Wegen zu befreien scheinen. Die Arme und den Kopf in alle Richtungen schmeißend wirbelt der Tänzer durch den Raum, um sich dann erschöpft gegen einen Anderen zu lehnen. Eine Umarmung. Die Arme der Tänzerin ziehen in zwei gegenteilige Richtungen, spannen ihren Körper, während sie sich einem leisen, irren Wortgefecht – scheinbar mit sich selbst – auf Französisch überlässt. Es wird nicht weggesehen, wenn sich die Freiheit ihren Weg bahnt, nicht unterbrochen oder aufgehalten, sondern aufmerksam verfolgt und umrundet. Eine gewisse Distanz haltend, sich nicht mitziehen lassend. Bis sie sich wieder in einer Reihe vereinen. Schnelle stampfende Schritte, wie man sie aus dem Stück „Au temps où les Arabes dansaient“ erinnert, vereinen die TänzerInnen – mal in kreisförmigen Gruppen mal in linearer Einheit.

In den Arbeiten des tunesischen Choreografen, Tänzers und Schauspielers Radhouane El Meddeb kreisen die Themen immer wieder um die eigene Geschichte, den persönlichen Körper auf der Bühne, der ohne Worte erzählt und sich dem Publikum auf sensible Weise offenbart. Nachdem er sich nach seinem Schauspielstudium am Higher Institute of Dramatic Art of Tunis nach Frankreich aufmachte und sich dort in den letzten zwanzig Jahren immer mehr dem Tanz widmete, wurde der individuelle Ausdruck des Körpers zu einem zentralen Thema. In seinem Stück „Facing the sea, for tears to turn into laughter“ setzt er sich mit seiner tunesisch-französischen Biografie auseinander und seinem Blick auf eine sich stetig verändernde Heimat nach der Revolution. Der Blick auf das Meer, als bewegter Raum zwischen den Kontinenten, ist Sehnsuchts- und Schreckensort zugleich. Die ernsten Blicke voll vorsichtiger Beobachtung auf die vor einem liegende Ferne verschmelzen dabei mit einer herausfordernden und erwartungsvollen Haltung. Bis sich die ernste Wachsamkeit im Stück in eine von Humor gespickte Szenerie, voller kleiner Lacher, Zankereien und wilder Drehungen wandelt. Die Veränderung vollzieht sich zum Ende des Stückes und lässt einen, wie die aufgeladene Situation am Beginn des Stückes in einem Zustand der Verwirrung zurück. Ein Gefühl des Erwartens, das man in Anbetracht der aktuellen politischen Lage nur zu gut kennt und das einen in konzentrierter Anspannung wachsam hält, durchzogen von kurzen Momenten auflodernder Erleichterung.

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