„Penelope wartet“ von Tarek Assam

„Penelope wartet“ von Tarek Assam

Großes Kino im Theater

„Penelope wartet“ - Die neue Choreografie von Tarek Assam im Stadttheater Gießen

Altphilologen müssen ihre Erwartungen an die Texttreue zurückschrauben. Die ganz großen Gefühle aber bleiben erhalten.

Gießen, 22/02/2016

Erneut wählte der Gießener Ballettdirektor Tarek Assam ein Stück Weltliteratur der Antike als Inspirationsquelle, betrachtet die Erzählung aber aus einem anderen Blickwinkel als gewohnt. Aus Homers „Odyssee“ wird bei ihm „Penelope wartet“, also die Situation der wartenden Frau, nicht die des Kämpfers vor Troja. Altphilologen müssen ihre Erwartung an Texttreue zurückschrauben, für die Bühnenumsetzung wurde natürlich die Anzahl der Akteure reduziert, die Personen, die den heimkehrenden Odysseus erkennen oder der treue Hund, und bekannte Motive werden modifiziert: das Weben des Leichentuchs wird zum Beispiel zum Weben des Hochzeitskleids. Dass Penelope die erzwungene Heirat hinauszögert, indem sie das tagsüber Gewebte nachts wieder auftrennt, bleibt bestehen und wird in ein träumerisches Szenenbild transformiert, das zugleich an Schicksalsfäden der Nornen erinnert.

Tarek Assam erzählt nicht pantomimisch gestenreich, sondern zeigt, wie man Gefühle und Handlungen tänzerisch darstellen kann. Symbolelemente setzt er sparsam, aber wirkungsvoll ein, so steht am Ende des Tanzstücks, wenn die Mägde auf den Knien rutschend sauber machen, das Rot ihrer Wischtücher für all das vergossene Blut, das Odysseus’ Rache gefordert hat. Auch der Kampf selbst wird nicht Mann gegen Mann mit Schwert gezeigt, sondern zu einem dramatischen Orchesterpaukenstück – auf der Bühne von Joachim Michelmann zelebriert – mit energievollem Solo des Odysseus. Ein zierliches Kapuzenwesen gesellt sich dazu, leitet die entscheidenden Handlungen ein, und mutiert vom Todesschatten zur geliebten Ehefrau. War schon das atemberaubende Paukenstück großes Kino im Theater, so ist es das Happyending nicht minder.

Zu Assams Team gehören diverse Spezialisten, allein für die Musik. Die Kompositionen stammen von John Psathas, ein Neuseeländer mit griechischen Wurzeln, der bekannt ist für seinen dynamischen Mix aus vielen Musikgenres, die im Ergebnis oft an Filmmusiken erinnern und das Pathos nicht scheuen. Nach Auswahl der Kompositionen durch Assam wurde klar, dass ein Arrangement her musste, das der einstige Gießener Orchesterleiter Herbert Gietzen übernahm; bei manchen Stücken reduzierte er auf die Möglichkeiten des Gießener Philharmonischen Orchesters, bei Kurzstücken musste er der Szenenlänge gemäß erweitern. Das Dirigat übernahm gewohnt souverän GMD Michael Hofstetter. Für das Bühnenbild holte Assam ein bereits mehrfach bewährtes Team aus Berlin: Bühnenbildner Fred Pommerehn und Kostümbildnerin Gabriele Kortmann.

Klassizistische Skulpturen in verschiedenen Größen stehen auf einer rückwärtigen Tribüne, erscheinen mittels Lichteffekten mal geheimnisvoll entrückt in ihrer Götterwelt, dann wieder sehr konkret und steinern inmitten der Menschen. Ähnlich den Statuen erstarren auch die Tänzer oder ahmen im Tanz deren verdrehte Posen nach, nutzen sie als Liebesobjekte, um sie am Ende teilweise vom Podest zu holen. Die Kostüme sind farblich angepasst, von steinfarben bis marmorweiß. Einzige Farbtupfer sind das rote Haar von Penelope und die blauen Spitzdreiecke vom Kinn bis zur Brust, die als Bärte oder Körperbemalung ihre eigene Wirkung im Tanz entfalten. Die zurückkehrenden Krieger tragen Tarnanzüge und ein Boot als Kopfbedeckung, die Frauen von Ithaka griechisch inspirierte Kleidchen. Penelope sticht durch ihr elegantes Hosen-Ensemble hervor.

Magdalena Stoyanova erfüllt die Rolle der Penelope mit einer bewundernswerten Bühnenpräsenz. Nach ihrer Lady Macbeth dürfte sie sich damit erneut in das Gedächtnis der Tanzcompagnie-Fans einschreiben. Als zweites langjähriges TCG-Mitglied agiert Sven Krautwurst als anschmiegsamer und wachsamer Begleiter, ob man ihn nun als Hund sieht oder als Diener. Neuzugang Francesco Mariottini tanzt den Odysseus beeindruckend kraftvoll und darstellerisch überzeugend. Außerdem tanzen: Caitlin-Rae Crook, Agnieszka Jachym, Kristina Norri, Mamiko Sakurai, Skip Willcox; Romain Arreghini, William Banks, Yago Catalinas Heredia, Alberto Terribile.

Auch Menschen, die an der antiken Geschichte nicht interessiert sind, können bei diesem Tanzstück nur gewinnen. Es bietet optischen Genuss und zeitgenössischen Tanz von hoher Ästhetik, zudem entfaltet es eine immense musikalische Sogwirkung. Gefühle wie sehnsuchtsvolle Erwartung und tiefe Verzweiflung, Rachedurst und Liebesglück sind auch ohne die Geschichte verstehbar. Das Uraufführungspublikum dankte mit lang anhaltenden Standing Ovations. Das Tanzjahr 2016 hat für Gießen, einen Tag nach der offiziellen Eröffnung in Berlin, mit einem echten Paukenschlag begonnen.

Weitere Vorstellungen: 12., 26. März, 7., 24. April, 16. Mai 2016, jeweils 19.30 Uhr im Großen Haus
 

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